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Prose

Tami und Agnes (Auszug / Bühnenfassung zum 50. Todestag)

syg.ma team05/11/21 07:331K🔥

KLASSENKAMPF KLASSENKRAMPF VERSTOPFUNGSPROSA

MARQUIS DE POSA (weiter durchgestrichen) GEBEN SIE GEDANKENFREIHEIT

„Your father your future protects you“

Death in June

„Der atheistische Materialismus ist mit Notwendigkeit revolutionär, denn um nach einem absoluten Gut auf Erden zu trachten, muss man dieses in die Zukunft verlegen. Man bedarf dann alsbald, damit es diesem Streben an nichts fehle, eines Mittlers zwischen der zukünftigen Vollkommenheit und der Gegenwart. Dieser Mittler ist der FUTURE: Lenin, usw. Er ist unfehlbar und vollkommen rein. Durch ihn hindurch wird das Böse etwas Gutes.

Es bleibt nur die Wahl zwischen dieser Haltung oder der Liebe zu Gott, oder man lässt sich von den kleinen Übeln und kleinen Gütern des Alltagslebens hin und her treiben.“

Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, Berlin 2021, S. 187

Die Treppe hochstapfend erreicht Agnes mit jeder Stufe Bestätigung ihrer Wut erfahrend die offenstehende, mit Stickern und teils deren abgekratzten Spuren übersähte Tür.

Die Erzählerin (durchgestrichen) Programmiererin kann hier nicht anders, als den Sowjetkitsch im Jugendzimmer zu exotisieren, hat sie ihn nicht selbst schon ironisch aufgetischt gefunden in einer totalen Installation des exilierten Ilja Kabakov, in der Agnes — es war schon Schlafenszeit — unerlaubt in den Weltraum flog. Doch angesichts der dort erfahrenen Weiten verzeiht Agnes die epistemischen Grenzen dieser Beschreibung ganz gerne.

Nachdem sie, also Agnes, die Tür zugeknallt hat und sich auf dem weichen Patchwork der nur nachlässig platzierten Tagesdecke fallen lässt, macht sie, wie eigentlich ständig, erst mal TikTok auf.

Staubt tanzt zwischen Vorhang und Patchworkdecke, das orangene Licht der Laterne warum muss jeder Satz so fertig sein so notwendig.

Die Geschlossenheit dieser Welt endet dort, wo nikotingelbe Finger das Tampon in die Vulva drehen, malt Privatheit auf trockener Schleimhaut das gesellschaftliches Sein. Den Finger schon unter kaltes Wasser, wird das Häutchen als Onthologisches behauptet. Neidvoll ist ihr Innerstes dann auf das Fließende gerichtet.

Dann tippt sie schnell:

Life itself destroyed das
Zerschellen der Form am Leben
Vielleicht ist deshalb alles, was ich schreibe, nur Lyrik *heul*

Jeden Abend liegt sie hier, die Patchworkdecke längst zerknüllt am Teppichboden liegend, und cravet nach Melatonin. Ihr Hirn zitiert Ronni, es ginge um den Realismus, zitiert die „die Möglichkeit eines sozialistischen Realismus im Kapitalismus“, auf die er beharrt.

Der Youtubealgorithmus schlägt ihr cold soviet nostalgia vor, während sie der Schlaf überkommt.

So viel zu Agnes. Ich selbst (meint Agnes) bringe keinen einzigen Satz mehr hervor und die Datenmengen rinnen wie Sand durch die Finger. Ob es denn anders gewesen sei vor der Revolution idk

Jedenfalls warum sind wir tags in der Nüchternheit so verhalten, warum können wir uns nur küssen, wenn wir schon betrunken oder high sind, warum begreift sich der Rausch ausgerechnet in seiner Temporalität SOUVERÄN IST WER ÜBER DEN AUSNAHMEZUSTAND ENTSCHEIDET [1] der Rausch also, der die Solidarität der Körper ermöglicht in stürmischer Frenetik des Volkes des Dings, das die Massen ergreift, das ihre Münder sich verfangen lässt (jetzt metaphorisch) in unbeholfener Gier danach, die Zeit der Gegenwart nicht vergehen zu lassen.

Die Revolution ist der Sex. Aber ich interessiere mich nicht für Sex. Warum sprechen wir noch von ihr, der Revolution, die sie Routine geworden ist, ich meine, es ist doch nichts Neues, der Ablauf ist absolut klar. Die Revolution ist die Notdurft der Geschichte. Also einmal hätte gereicht und wir sprechen ja (schon wieder) von der Einzigartigkeit des Ereignisses, warum wollen wir es dann nochmal und nochmal, heißt das, wir sind als Linke immer, heißt das, ist die Wiederholung in der Sucht immer nostalgisch, so konservativ.

WOLLT IHR NICHT MEHR DIE GEMARTERTEN SKLAVEN DER ZEIT SEIN SO BERAUSCHT EUCH; BERAUSCHT EUCH UNAUFHÖRLICH. [2]

Die LEDs blinken entfernt und die Luft riecht nach Benzin. Die Tamagotchis im Mastcamp, sie hängen alle am Stöpsel an der Nadel am Kabel und was wären sie ohne des FUTUREs Liebe, sie zu füttern, fragt sich Agnes. Sie werden selbst zur Liebe erzogen, derer sie jetzt noch nicht zu spenden bereit sind, da sie ihren Hunger erst stillen müssen. Doch der neue Tamagotchi, er soll nicht um des Nächsten als Futter willen lieben, er soll den Nächsten um seines/ um ihres Hunger willen lieben. [3]

Sie fingert die Lochkarten, sie stöpselt, entstöpselt, der Jüngling folgt ihr unaufgefordert, sie fragt ihn, willst du anal. Denn wir müssen der Unmittelbarkeit, dem bürgerlich aufgefassten Naturbegriff einen Riegel vorschieben. (Der Riegel ist der weibliche Phallus.) Doch was passiert im nächsten versexten Level? Im Übergang der Diktatur des Proletariats in den wahrhaft und nicht wehrhaft befreiten Zustand von Tamagotchis?

Sie meint auch zu dem Jüngling, sie ginge nur zu den Hochfesten in die Kirche. Auszutreten brächte sie nicht über sich. Könnte die Rolle der Konfession zu ihrer Identität nicht klären wie die von Psychopharmaka zu ihrem seelischen Apparat.

Agnes Willst du anal

hält inne

Kann die Rolle der Konfession zu meiner Identität jedenfalls nicht klären wie die von Psychopharmaka zum psychischen Apparat

Jüngling Auch eine schöne Wendung des Marx‘schen Bonmot

Agnes

Jüngling Vom Opium des Volkesdie

Stecker in der Hand

Agnes Achso ja

AGNES FÜRSTENERZIEHERIN FUTUREERZIEHERIN

Denn wer füttert den FUTURE, wenn der auch nur aus einem Ei geschlüpft ist.

Der Sekretär hat keine Augenbrauen oder er hat Augenbrauen, die so hell sind, dass man sie nicht sieht. Er trägt einen Anzug, der blass grün ist. Als sie sich, nachdem er ihnen mit einem kurzen Nicken die Hand gereicht hat, an seinen Schreibtisch setzen, merkt Agnes, dass die Politur des Holzes nach Pisse riecht und sie denkt an den Hasenbraten in der Küche ihrer Oma zu der Zeit, in der ihr Dad noch menschlichen Antlitzes war. Dem Sekretär scheint die kurze Verspannung ihres Ausdrucks nicht zu entgehen und er fixiert sie schärfer, während Ronni immer noch in die gerahmte Papierarbeit von Deineka an der holzvertäfelten Wand versunken scheint.

Am Sonntagstisch erzählte ihr Vater gerne aus seiner Jugend, von seinen Jahren in Heidelberg, wo er unter Deutschen studierte. Von seiner ersten Verlobung aber sprach er nie. Irma. Ihr Bild nur hatte sie einmal gesehen, ihren mit gestärkter Spitze verbrämten Kragen, ihr Blick zur Seite, ihre Pose im Schlendern begriffen. Als hätte sie was zu verbergen.

Fast hat sie vergessen, in welcher Angelegenheit sie hier war, sich also nicht im Pissgeruch ihres Elektrakomplexes zu ergeben, sondern: der Kongress sowjetischer ProgrammierInnen, wo Ronni und sie in der dritten Halle als JuniormoderatorInnen auftreten sollten und das schon übermorgen. Während der Sekretär die Mappe aufschlägt, schielt sie zu Ronni hinüber, der, unter dem Deineka viel spanischer noch als sonst geschmolzen schien, höfisch und andächtig als ein Statist El Grecos verharrte.

Agnes, immer schon vorekstatisch, hat für diese Facette seiner Schönheit freilich nichts übrig und holt ihn mit einem Räuspern auch schon zurück in die Gegenwart der Pisspolitur im Politbüro.

Stimmt. Sie sind im Fakälgebäude der Partei. Das ist symbolisch. [4] Das Fäkale dient einzig dazu, die Menschen zur Demut zwingen, dass sie angesichts des Digitalen doch nur menschlicher Natur sind — ein Moment, den ihr Dad sicher nötig gehabt hätte — was die MitarbeiterInnen mit ihren daran gewöhnten Nasen gar nicht mehr wahrnehmen, es die wenigen BesucherInnen, die es monatlich so gibt, aber umso mehr aus der Bahn wirft. Hinsichtlich dieser breiten symbolischen Wirksamkeit im Volk wäre die Regierung sicher besser beraten gewesen, ein öffentliches Gebäude mit mehr Zulauf mit dieser Funktion zu versehen, aber das nur am Rande.

Die Programmiererin, die es am übermorgigen Tage jedenfalls zu interviewen galt, hatte sich in ihrem letzten Buch des Verdachtes schuldig gemacht, den FUTURE in Gestalt eines Eis darzustellen, ja, eines Eis, das noch nicht durchschlüpft war, und ihn somit auf eine Stufe zu stellen, die dem Tamagotchi als vorausgehend gilt, aber das ist er doch auch, wendet Agnes innerlich ein, und gar nicht hierarchisch, sondern als Bedingung der gesellschaftlichen Entfaltung der einzelnen Küken. Ronni und sie sollen gar nicht wissen, welche Rolle sie hier spielen, denkt sich Agnes. Und als hätten seine farblosen Augen ihre Gedanken durchbohrt, beginnt der Sekretär: „Kinders“, beginnt er, „ich darf annehmen, dass ihr euch der Verantwortung bewusst seid, derer es bedarf, als die einzigen JuniormoderatorInnen des diesjährigen Kongresses die Stimme des Volkes an die TrägerInnen der Schrift zu wenden, die diesem Volk als Sprit für unsere große Sache… damn, wo ist es…“ und er blättert wieder verloren in seinen Ordnern. „Ah hier. Nun haben wir, Kinders, freilich einen Haufen von Bewerbungen erhalten, noch mehr als in den vergangenen Jahren. Nun, hier ist es. Herr… Ronni… Alexandrowitsch, sagen Sie, wir fragten uns, in welchem Grade sie mit der Bratina Zinaida Schdanow verwand sind.“

„Bratan, ich entschuldige mich, Ihre Hoffnung zu enttäuschen und hier ehrlich zu antworten, dass meine Familie nicht die Ehre besitzt, in verwandschaftlichem Verhältnis zur Familie des Bratan Schdanov zu stehen.“

Zerstreut blickt ihn der Sekretär an. „Die Daten des mittlerweile gesperrten TikTok Account der zu Interviewenden haben Sie für die Vorbereitung auch erhalten.“ Nicken. „Gut. Sie dürfen sich dann was aussuchen, aber nur eine Sache, verstanden, schließlich sind wir hier nicht in der Warengesellschaft, und glaubt ja nicht, dass meine Mitarbeiterinnen eure gierigen Griffeln aus den Augen ließen.“ Damit verwies er sie mit einer beiläufigen Handgeste zur Tür, ohne noch mal von seinen Unterlagen aufzuschauen.

Der Einkaufswagen im Vorraum, freilich ausschlaggebendster Grund ihrer Bewerbung, überstieg ihre überlichten Erwartungen. Natürlich hatten sie sich vorbereitet. Mit einem kurzen Blick nur signalisierte Agnes Ronni, jetzt die Pulverkugel rauszuholen. Und noch ehe er sie warf — ein jäher Blitz durchzog den Raum fast unmerklich, flackernd — beugten sich die adretten Mitarbeiterinnen zu ihren Klettverschlussschuhen und ihr Ekel wandte sich kollektiv in Verzückung, als die erste das Antlitz des FUTUREs in der Hundescheiße darauf zu erkennen glaubte. (Ekel, da es im Gebäude nur humane, keine tierischen Exkremente gab.) Agnes zögerte nicht, sich den Einkaufswagen zu schnappen, als schon die erste auf ihre Kollegin losging und schon entbrannten sie im zähnefletschenden bitchfight darüber, welche fäkalbeschmutzte Gummisohle das wahre Abbild des FUTUREs zeige. Doch der Lärm verhallte bald, die Hundescheiße galt es nun schnell als NFT einzuspeisen, und jede ihr einzig gültiges Archeiropoieton in der Digitalisierungskammer anzumelden.

Das ging ja noch mal gut. Diese Parteificker sind einfach alle, und Agnes brach ab vor Lachen. Und so zogen sie von dannen, den Wagen vor sich herschiebend in die noch junge Nacht, der Wagen, der brechend gefüllt war mit Plüschtieren, mit fäkalen Schminkkoffern und synthetischen Süßigkeiten, von denen sie in ihrer überschwänglichen Freude allesamt nicht wussten, was sie damit anfangen sollten.

Brecht Naja.

Ja, stimmt schon… Ich kann mich nimmer kümmern.

Brecht Naja, es stimmt, wie soll man Abschied nehmen?

Servus Erdnuss
Tschau Kakao
Good night hat mi g‘freid
c u later alligator
…?

längere Pause

Brecht Wollte nur sagen, hat mi g‘freid.

Also,
die Zeit, wo du mich aus dem Plastik heraus nur anschweigst. Waren schon ein gutes Team, oder was sagst du?

Achso, was frag ich überhaupt. (nippt an seinem Bier und zögert)
Ich will jetzt diese Birken anschauen okay

Wollte nur sagen, hat mi g‘freid.
Ich bin ja jetzt in Finnland.
Du musst das verstehen.

Also
Zwischen diesen Birken
entlasse ich dich, Tamagotschi,
in die Wildnis,
auch wenn diese keinen Begriff für einen Tamagotschi darstellt
weil du nur Digitalität bist

das ist mir schon klar

doch
ich will hier einfach nur sein
verweilen, wie man sagt,
und die Birken anschauen
ihre weiße Borke anschauen,
wie sie ablättert.
Man kennt das ja sonst von keinen Laubbäumen.
Wozu bin ich jetzt sonst in Finnland lol
im Exil

Sie anschauen also
und mein Bier trinken

okay

Tami okay

Die Birken, Warum lassen sie das
zu dass man aus ihnen Zucker gewinnen kann
oder Trinknahrung im Krieg.

Aber ich will eh keine Hosentaschen mehr haben
die ja das resort von Tamagotchis sind
Du musst das verstehen
es geht gar nicht gegen dich
keine Hosenhaschen mehr
gar nicht weil sie unstylisch sind
sondern weil sich darin allzu Menschliches verfängt wie benutzte Taschentücher *schnief*

Passt fei schon auf dich auf, gell.

Der Tamagotchi meldet Notstand; Widerspiegelung wird urgent! Der Tamagotchi baumelt vom Baum, eine Birke ist das wahrscheinlich.

Brecht Also dann

Bis denne
Antenne

tritt ab

Anges‘ Augenringe — die allnächtlichen Schichten im Mastcamp zehren an ihr — die Kompensation durch das Amphetamin tut das seinige. „Ich möchte eigentlich nichts essen.“, sagt sie. Er schiebt ihr einen Keks rüber, den sie nicht anrührt. Der Youtubealgorithmus schlägt ihnen cold soviet nostalgia vor.

Agnes‘ Angst, vergiftet zu werden, die Ronni so sehr belächelte, war jetzt auf dem Höhepunkt. Die unterschwellige Überlegenheit, die sein Ausdruck in der letzten Zeit so obligatorisch angenommen hatte, wurde ihr immer vordergründiger, und es schmerzte sie zu spüren, dass er damit in eine Ferne von ihr rückte, die sie besonders nach den letzten Abenden, die sie auf ihrem Teppichboden sitzend verbracht hatten — der Tami schaute unten fern —, während sie die aus dem Fäkalbüro entwendeten Trophäen auf dem Sekundärmarkt online gestellt hatten und sich möglichst poetische Artikelbeschreibungen für sie erdichteten, nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Sie schrieben auf ihrem Teppichboden Artikelbeschreibungen wie

Das ist der neueste shit, den wir zugegebenermaßen doch nicht brauchen, sonst würden wir ihn ja nicht online stellen, aber naja jedenfalls ist er neuwertig und hey die

NEOAVANTGARDEN, ich meine:

die historischen Avantgarden noch mal überflügeln ist, wie bereits angekokelten dann erkalteten Tabak noch mal in die Zigarette zu drehen. Es riecht bereits vor dem Rauchen so unappetitlich nach Sättigung so postkoital nach kaltem Rauch und die Freude auf den Konsum wird doch resp. der vertrackten Sucht doch nicht ausgelöscht, weil man einfach nicht genug bekommen kann so here we go.

Gier, Ronni Gier, die schwache Hoffnung, die geringe Möglichkeit, dass Ronni vom Gegenüber des Wohnblocks her vorbeischaut, wo er so tut, als würde er schlafen, aber es doch offensichtlich ist, dass dem nicht so ist, weil er sein Licht angelassen hat, seine Neonröhren, die hinüberscheinen, wenn sie, Agnes, sich aus dem Fenster von ihres Dads Arbeitszimmer hinausbeugt in die eiskalte Nachtluft. Selig, die Aufhebung der Zeit. [7]

Die unmögliche Anwesenheit von Ronnis so nahen Körpers befeuert ihr Schreiben (weiter durchgestrichen) Programmieren aufs Äußerste. Die Gier, nicht die Neugier, sondern die Altgier treibt sie dazu, herauszufinden, wer des Erzeugers Erzeuger, wer des FUTUREs Fütterer war. Vielleicht hat er dort drüben auch die Komsomolzin aus der Klasse über ihnen zu Besuch und sie schauen Netflix und haben danach Petting, wer weiß das schon, wobei ja Anges bei der Aktivität der Neonröhren darauf tippt, dass die Aufmerksamkeit dort drüben sich keines Bildschirms ausgesetzt hat. Ihre eigene Aufmerksamkeit muss sie jeden Augenblick auf die App zurücklenken. (Paradoxes Schöpfungsprinzip des Nähe-Distanz-Konfliktes, Borderline, denkt sie, eine Diagnose, die Ronni so gerne über das Verhältnis zwischen Utopie und Wirklichkeit verhängt.) Sie selbst wünscht sich dann jedes Mal, er würde seine kaderbürokratische Prägung dazu wenden, einen Diagnosezettel auzufüllen, einen Diagnosezettel, den er mit seiner Handschrift an die Wirklichkeit adressiert, doch ebenso wenig wie seine Handschrift, der Spur seines Körpers, nach der sie sich so sehnte, fand sie andere allzumenschliche Verweise in seiner Lebensform, so wie Essbares in seinem Kühlschrank in der Küche, die jeder Mikrowelle, geschweige denn jeder Herdplatte, jedes sich erwärmenden Momentes entbehrte. Erwähnt sie die sich erwärmenden Momente seines Gemütes, sollte sie also das sich Erwärmende erwähnen, dann müsste sie sich entzücken in der

Wertschöpfung des Seltenheitscharakters (aber wir sind hier schließlich nicht in der Warengesellschaft).

D.h., sie wünscht sich seine Handschrift nicht nur aufgrund seiner graphischen Qualität (sie denkt wieder an den Deineka im Pissbüro), sondern vor allem und gerade in seinem Verweis der Schrift auf den schreibenden Körper. Seine charakterlose Handschrift, die jedes Mal eine andere war. Jedes Waschpulver roch nach seinem Schweiß, die ganze Produktpalette verwies, wies hienein in die semiotische Sackgasse namens Ronni.

Ihr Hirn zitiert Ronni, ihm ginge es um den Realismus, sie zitiert „die Möglichkeit eines sozialistischen Realismus im Kapitalismus“, auf die er beharrt.

Der Youtubealgorithmus schlägt ihr cold soviet nostalgia vor.
Brecht tritt auf, er hält einen Bierkrug (kann auch ein Masskrug sein)

Brecht Habe die Ehre Heidelbeere
Ich bin der Brecht.
Ich muss das dazu sagen.
Dieses Seil habe ich mir selbst gestrickt
Oder wie sagt man…?

Heidelbeere Jetzt echt? Der Brecht?

Brecht Nicht in echt
Aber auf der Bühne, im Wald
Da schon

Er blickt sich um
Heidelbeere tritt ab

Brecht Ja
Ich bin beunruhigt

starrt vor sich hin

Mir träumte

Jetzt fällt mir’s ein

Mir träumte

Mir träumte vom Tamagotschi

Mir träumte, er habe die Rechte an seinem Buch also Geschichte und Klassenbewusstsein

Mir träumte, er habe die Rechte an seinem Buch an Netflix verkauft.

Macht damit was ihr wollt
hat er gesagt

Denn ich bin jung

und brauche das Geld

(hysterisch und fast gesanglich aus dem Off)

Heidelbeere SACRIFIZIO DELL‘ INTELLETTO [6]

(wobei das Schluss-O in einem Glissando endet, das aber nur als einer von Ronnis Regieeinfällen)

(gedankenverloren, ohne sie gehört zu haben)

Brecht Ja
Ich kann meine Gefühle nicht leugnen

Ich bin beunruhigt

Daher komme ich zurück

zur Lichtung
hierher

trinkt aus und starrt in die Dämmerung

(Szene kann beliebig oft geloopt werden)

Brecht Was bedeutet dann
das Zerschellen der Form am Leben
Ich möchte doch nur schreiben

in Rage:

Wie kann sich das Leben der Form erwehren
Ich möchte doch nur schreiben

schreibt:

KONSEQUENTE KLEINSCHREIBUNG KONSEQUENTE KLEINSCHREIBUNG

Sophia Eisenhut

1. Carl Schmitt: Politische Theologie, München 1934, S. 17.

2. Charles Baudelaire: Le spleen de Paris: Petits poèmes en prose, Stuttgart 2008, S. 175.

3. Vgl. Simone Weil: New York Notebook. In: First and Last Notebooks, London 1970, S. 67–332, S.4. 284: Instead of loving a human being for his hunger, we love him as food for ourselves. We love like cannibals. To love purely is to love the hunger in a human being. Then, since all men are always hungry, one al-ways loves all men. The hunger of a few men is partly satisfied; in them, one ought to love both their hunger and its satisfaction.

4. Vgl. Hannah Arendt: Exkremente und Ursprünge totaler Herrschaft.

5. Das zeitliche Paradox, das Jetzt-Schon des Erreichbaren schließt die Möglichkeit eines Alterns aus. Das zeitliche Paradox des historischen Sozialismus besteht weniger in seiner Übergangsphase vom Kapi- talismus zum Kommunismus als darin, dass in ihm als unablösbare Vorstufe des Kommunismus Elemente desselben Zukünftigen im Voraus implementiert sind. (Vgl. Keti Chukhrov: Practicing the Good: Desire and Boredom in Soviet Socialism, Minneapolis 2020, S. 61)

Das zeitliche Paradox des kapitalistischen Realismus besteht in seiner Übergangsphase zum Immergleichen, die depressive Hedonie hervorruft, die irgendwie auch ewig jugendlich konnotiert ist genauso wie die Revo- lution. Majakowski, von dem Slovskij schreibt, er sei in die Revolution getreten wie in ein Eigenheim (man beachte den Vergleich mit dem Privateigentum) beendet sein Altern mit 36, Mark Fisher mit 38.

6 Vgl. Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung, in: Jutta Matzner (Hg.): Lehrstück Lukács, Frankfurt a.M. 1974, S. 178–206, S. 179.

Sonya Novichkova
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