Im Ozean der Utopien
Kaum etwas scheinen wir derzeit dringender zu benötigen als Utopien — Ideen, Hoffnungen, Pläne, wie es weitergehen könnte, Wege in eine bessere Zukunft“, schätzt Ann-Kathrin Günzel im eröffnenden Essay „Utopia. Weltentwürfe und Möglichkeitsräume in der Kunst“ in dem von ihr vorzüglich ediertem Band 275, Kunstforum International.
Doch kein Wort zum The Palace of Projects (Palast der Projekte) von Ilya Kabakov, der seit nun zwanzig Jahren im „Weltkulturerbe Zeche Zollverein“ zu besichtigen ist. Dieser „Palast der Projekte“ scheint das Schicksal so vieler Utopien und Projekte zu teilen: Erst sorgen sie mächtig für Aufsehen, dann geraten sie in Vergessenheit, dann legt sich der Staub der Geschichte darüber. Am Stadtrand von Essen ist der „Palast der Projekte“ in einer Eventhalle untergebracht. Kabakovs Hauptwerk steht da wie abgestellt. Der Künstler ist bereits 1996 mit seiner Frau Emilia in die USA ausgewandert, wo er ein Studio auf Long Island unterhält und von dort aus weiter weltweit aktiv ist. Schon 2003 äußerte er Kritik am gescheiterten Vorhaben, in Essen ein Kabakov-Zentrum zu errichten (s. das Gespräch unten).
The Palace of Projects findet in Essen kaum Beachtung, Besucher “eher spärlich”, wie Marita Pfeiffer, Leiterin Geschichtskultur, Kommunikation und kulturelle Nutzung der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur bekennt. Der Stiftung gehört der “Palast“, es ist das einzige Kunstwerk dieser Denkmalstiftung aus Dortmund. Er wurde damals über die Galerie Clara Maria Sels für drei Millionen Euro angekauft. Zukunft ungewiss. “Gemeinsam wollen wir eine schöne Lösung finden”, wie man im schönsten Gremiendeutsch aus Dortmund hört.
Im Jahr 2001 wurde das Salzlager auf dem Gelände der stillgelegten Kokerei angrenzend zur Zeche Zollverein für drei Millionen Euro zu einem Ausstellungs- und Veranstaltungsort umgebaut. Seitdem beherbergt die Halle den rund 7 Meter hohen und 23 Meter breiten Palastbau mit 61 Projekten im Inneren, die Kabakov selbst in Essen einrichtete. Im alten Salzmagazin nebenan sollte ursprünglich das weltweit erste Archiv für das gesamte zeichnerische und druckgraphische Werk Kabakovs entstehen. Jetzt zog dort das Schaudepot des Ruhr Museums ein. Unsere Autorin Anastasiya Levchuk hat sich auf zu Kabakovs Hauptwerk gemacht.
Die grenzenlose Welt der Projekte
Es gibt nicht viele Kunstwerke, die allein aufgrund ihrer Größe nicht zu übersehen sind. Doch ist nicht allein die Größe ein Grund ein Kunstwerk zu loben, es muss dazu ein wesentlicher Inhalt kommen, und ein Maß an Unbestimmtheit, dass uns die Abgründe der (eigenen) Welt erahnen lässt, wie zum Beispiel beim The Palace of Projects von Ilya Kabakov. Nach einer Ausstellungstournee durch London (1998), Madrid, Manchester, Sankt Petersburg und New York steht die großartige Installation in Essen jedoch im Abseits. Ihre Dichte und Vielgestaltigkeit, was den Bau selbst wie die Themen betrifft, ist allerdings von hoher Aktualität.
Da steht er groß und mächtig in der weiten Industriehalle, Monument und riesiges Modell zugleich, isoliert und fremd. Wie er da im hinteren Drittel der Halle aufragt, erscheint er beinahe wie ein Altar in einer Basilika. Eines aber ist diese Holzlattenkonstruktion beileibe nicht: ein Palast.
Der geheimnisvolle Eindruck wird von einer Lichtinszenierung verstärkt. Der billige, spiralförmige Baukörper wird von Lichtstrahlern pathetisch beleuchtet. Wände und Decken sind aus lichtdurchlässigem Nylon gefertigt, das zwischen die Holzkonstruktion eingespannt ist. Das Licht im Inneren des Palastes ist also gefiltert, es entsteht eine zwielichtige, ephemere Atmosphäre.
Dieser „Palast“ ist die Ironie seiner selbst, eher Zikkurat oder utopische Architektur, Turm von Babel oder Echo auf Tatlins Turm für die Dritte Kommunistische Internationale. Wie dieses zentrale Werk des Großmeisters der Installation überhaupt in den Zweckbau einer stillgelegten Zeche geriet? Ironie des Schicksals? Oder eher ein Stück Politikerutopie, die auf den gescheiterten „Strukturwandel“ im Ruhrgebiet verweist?
Wir betreten diesen „Palast“ durch eine unscheinbare Tür und begegnen einer Polyphonie der Projekte. Jeder der Räume ist wie ein Klassenzimmer mit den kleinen Tischen und Stühlen konzipiert. Auf den Tischen befinden sich eine Beschreibung und Kommentare zu jedem amateurhaft wirkenden Modell, das aus keinen hochwertigen Materialien hergestellt ist. Während der Betrachter an einem Tisch in der speziell beleuchteten, leicht vergilbten Atmosphäre sitzt, kann er sich mit der Konzeption des Projekts vertraut machen und eine Erfahrung mit der Vermittlung der Idee unter Anleitung des Autors bekommen.
Die 61 Projekte, die detailliert ausgearbeitet sind, umfassen Miniaturmodelle, Gemälde und Schriften, die Lösungen für die Herausforderungen des täglichen Lebens und Vorschläge für persönliche Verbesserung darstellen. In den Texten sind Beschreibungen von mehr oder minder fantastisch anmutenden Ideen von fiktiven (?) Sowjetbürgern, die sowohl durch das Land als auch durch die Zeit voneinander getrennt sind.
Währenddessen tritt Kabakov als Graue Eminenz in Erscheinung. Alle Projekte tragen Titel, die ironische und absurde Elemente transportieren: “Radikale historische Umänderung eines Landes”, “Vorrichtung für die Ankunft von Gästen”, “Auf dem Topf sitzen”, “Bestrafung der Haushaltsgegenstände“. Die Spanne an Themen umfasst alle möglichen Verbesserungen, so die ökologische Umgestaltung der Umwelt, Vorschläge, wie man durch ein System von Pumpen und Rohren die “Wolke verwaltet“, oder auch wie man es anstellt, anderen zu vertrauen, oder sein Essen bekommt, ohne den Wohnraum zu verlassen.
Allesamt handelt es sich um vielleicht abstruse Ideen, jedoch handelt es sich im Kern und um soziale Vorschläge. Zu jedem der Projekte gibt es Handreichungen und praktische Anleitungen zur Umsetzung einer Idee in die Realität. Doch bei allem Pragmatismus haben die Instruktionen einen humorigen Twist, als sie selbst nicht an ihre Realisierungschance glaubten.
Der Palace of Projects ist Kabakov Reprise auf die andauernde Umerziehung im Sozialismus. Insofern kommt er im Innern so penetrant didaktisch daher. Die sechzehn Zimmer sind nach einem quasi-dikaktischen Prinzip aneinander gereiht, wie z. B. Verbesserung des Lebens anderer Menschen oder Vervollkommnung des einzelnen Individuums. Und wie bei allen solchen erzieherischen Maßnahmen, setzen wir voraus, dass die gesamte spiralförmige Installation einem Gesetz der Entwicklung oder doch einer Art Ziel folgt, das erst im letzten Saal im Obergeschoss als Kulmination endgültig erreicht wird. Genau hier allerdings sieht man sich verblüfft.
Während wir uns noch reihum durch die Räume arbeiten, taucht eine immens breite Treppe auf. Sie führt in einer sanften Biegung nach oben. Die Erwartung auf die Quintessenz des Gesamtwerkes, auf sein Ziel und finales Etwas steigt mit jedem Schritt. Doch sieht man, oben angekommen, bloß einen Haufen Müll auf einem weiteren Tisch. Abraumhalde der Projekte? Recyclingmaterial für weitere?
Die unendliche Geschichte der Projektemacherei
Diese aufsteigende Konstruktion verkörpert die Emanzipation vom alltäglichen Leben hin zu einer wie auch immer gearteten Ebene höheren Daseins. Dieser utopische Grundzug endet als Sackgasse. Es bleibt ein Müllhaufen, ein Resteberg, aus dem bei Bedarf neue Projekte, neue Utopien gebastelt werden können.
Kabakov dazu in einem Essay, den er zu seiner Installation eigens geschrieben hat:
„Indem wir das schier grenzenlose Gebiet von Utopien und Projekten untersuchen, beginnen wir zunächst in einem gigantisches Meer aller möglichen Vorschläge und Aufbrüche zu versinken, zudem in einer Fülle an Zielen und Ideen, die einst ihre Erfinder und Autoren geleitet haben.“
Die Welt sieht er zusammengesetzt aus einer Vielzahl an bereits realisierten und halb realisierten und gar nicht realisierten Projekten. Alles, was man um sich herum sieht und was möglicherweise die Zukunft ausmachen könnte — alles eine grenzenlose Welt der Projekte.
Aus Kabakovs Katalog zu “THE PALACE of PROJEKTS” von 1998
The Palace of Projects ist Kabakovs Zusammenfassung und Zenit seines Schaffens. Der Künstler fasst hier seine Sicht der Welt im Augenblick der Jahrtausendwende zum 21. Jahrhundert zusammen.
“Es ist jetzt das Ende des Jahrhunderts. Es gibt heutzutage die Illusion, dass erfundene Projekte einer großen Anzahl von Menschen, praktisch der gesamten Menschheit, irgendeinen Nutzen bringen und in die Realität umgesetzt werden können. Man kennt aus der Geschichte: je grandioser ein Projekt zu sein schien, desto mehr Opfer entsprachen seiner Größe. Das Ende des Jahrhunderts stellt ein Spiegelbild seines Anfangs dar, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Diese Zeit, die mit der Illusion einer radikalen Veränderung des Lebens begann, mit kleinen und großen Utopien, endet mit der Ernüchterung über deren Ergebnisse und der Skepsis gegenüber jeder Utopie oder utopischen Schöpfung im Allgemeinen. Aber die Abschaffung des Utopismus — ist leider auch wieder eine Form des Utopismus.”
Mit ihren Projekten thematisieren Ilya und Emilia Kabakov eine Welt, in der gemeinschaftliches Handelns möglich ist, doch weisen sie auch auf die Vergeblichkeit und die Verstrickung des Menschen in seine Ideen und Ideologien hin. Der bürokratische Konflikt, der Irrgarten institutioneller Organisation, auch das wird mit dem Palast der Projekte eindrücklich vor unsere Augen gestellt.
Science-Fiction aus dem Geist des Mythos
Kabakovs Genre der „totalen Installation“, die in dem Aufbau des The Palace of Projects zu erkennen ist, wird im Wörterbuch der Begriffe der Moskauer Konzeptschule ausführlich definiert:
“Eine Installation, die auf dem Einschluss des Betrachters in sich selbst aufbaut und auf seine Reaktion in einem geschlossenen, fensterlosen Raum, der oft aus mehreren Räumen besteht, ausgelegt ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Fall die Atmosphäre, die Aura, die durch die Bemalung der Wände, die Beleuchtung, die Anordnung der Räume usw. entsteht, wobei die zahlreichen “üblichen” Teilnehmer der Installation — Objekte, Zeichnungen, Bilder, Texte — zu gewöhnlichen Bestandteilen des Ganzen werden.”
Die Räume in diesem Projekt sind keine realistischen Einrichtungen, sie dienen keiner konkreten Schulung. Kabakov schafft eine ästhetische Wirklichkeit, die das Gefühl der Vergeblichkeit erzeugt. Als strukturierte und innerlich differenzierte Unendlichkeit kann Kabakovs Installation als Metapher für das dienen, was Jacques Derrida espacement (Zwischenraum) nennt, durch das sich der grundlegende Vorgang der Differenzierung vollzieht, der wiederum die innere Zeit der Subjektivität erzeugt. In dieser “verräumlichten Unendlichkeit“ verweist jedes Zeichen auf eine unendliche Vielzahl anderer Zeichen und leitet seine Bedeutung zu einer Unendlichkeit von Ähnlichkeiten, Unterschieden, strukturellen Ordnungen und gegenseitigen Kommentaren ab. Daraus ergibt sich jene Bewegung, die in ihrer Unvollständigkeit und Unendlichkeit jeden eindeutigen Inhalt und jede eindeutige Definition überwindet, die gleichbedeutend mit Subjektivität ist.
Im seinem Palace of Projects vereint Kabakov die 61 Projekte anderer Autoren. In der westlichen Kunst scheint dieses Konzept kaum nachvollziehbar, da die Kunst im Westen stark von einzelnen Schöpfern (Urhebern) und einzelnen künstlerischen Individuen geprägt ist. Es gibt die Behauptung, dass der russische Konzeptualismus im Gegensatz zum westlichen sich auch auf die Codes der Darstellung des Sakralen in der modernen Kultur konzentrierte. Viele sowjetische Künstler haben sich einen quasi-religiösen Mythos geschaffen, eine persönliche, allumfassende Ideologie, um zumindest für sich selbst die objektive Bedeutung ihrer Arbeit zu garantieren. Aber in dem Moment, als der Glaube an solche Mythen verloren ging, blieb ein endloses Feld widersprüchlicher Interpretationen, Theorien, Geschichten und Mythologien zurück.
Viele Moskauer Konzeptualistengruppen funktionierten als kollektive Quasi-Institutionen. Es waren zwangsläufig hermetische Organisationen, die ironische und kritische Dekonstruktionen der Sprachen der sowjetischen Bürokratie und Ideologie produzierten. Anderseits geht es hier also nicht so sehr um die Kultur, die sich in der Sowjetzeit gebildet hat, sondern um die allgemeinen Auswirkungen der russischen Mentalität. „Mystische Erfahrung scheint“, wie Boris Groys bemerkte, “nicht weniger klar und transparent zu sein als wissenschaftliche Erfahrung.” Dies erklärt Kabakovs häufige Abkehr von den für den Moskauer Konzeptualismus charakteristischen Gesetzen der Logik zu einem intuitiven Ansatz. „Ohne die Krönung der mystischen Erfahrung scheint die schöpferische Tätigkeit in der russischen Tradition unvollständig zu sein.“ (Groys). Anderseits schätzt der einflussreiche Theoretiker des Moskauer romantischen Konzeptualismust1 ein, dass keiner der Moskauer Künstler sich für den russischen Kontext interessierte, sondern vielmehr für den Weltkontext.
Kabakovs Oeuvre erscheint uns heute als ein Instrument, das eine neue historische Lesart provoziert. Es zeigt wie künstlerische Disziplinen, aber auch geografische, historische und zeitliche Grenzen überschritten werden können. Hier lässt sich Kabakovs Palace of Projects als Projekt verstehen; aber eines, dass die physische Aktualität eines Aktes in einer Einfachheit der Idee entstehen lässt.
1 Der Moskauer Konzeptualismus kam zu seinem Namen durch einen Artikel von Boris Groys mit dem Titel „Moskauer Romantischer Konzeptualismus“ (Moskovskij romantičeskij konceptualizm), der 1979 in der Zeitschrift A-Ja in Paris erschien.
Redaktion: Anke Strauch
Veröffentlicht von еiskellerberg.tv — eine Autorengemeinschaft, die Filme und Texte zur Kunst produziert und verbreitet. Bedeutende zeitgenössische Künstler und Protagonisten der internationalen Kunstszene werden in aktuellen filmischen Portraits vorgestellt. Dazu kommen Hintergrundberichte zur Kunst unserer Tage, Kommentare und Meinungsbeiträge.