Take Aim
Finn drehte den Schlüssel in Richtung des kleinen Pfeils. Jetzt öffnete die Lichtschranke nur noch von innen. Und von außen wieder mit Schlüssel. Mit beiden Händen zog er das Gitter aus dem Kasten über der Tür nach unten und verriegelte es mit einem Eisenstift im Boden. Vor zehn Stunden hatte seine Schicht begonnen. Seine Füße brannten und schwammen gleichzeitig in Schweiß. Am Unterarm hatte er sich zwei neue Brandblasen geholt und beim Wischen der Abzugshaube überm Herd, hatte er sich die Kante des Metallschutzes durch die Fingerkuppen gezogen.
Er setzte sich auf die Treppe vor dem Eingang zum Restaurant. Der Marktplatz vor ihm war leer. In der Seitengasse schepperte jemand mit einer Mülltonne. Überall wischten die Küchenhilfen jetzt den Dreck zusammen. Heute war er schnell gewesen. Schneller als die vom „Journal“ und vom „Auflauf“. Das Abendgeschäft war aber auch mies gelaufen. Noch waren die Abende zu kalt um draußen zu essen, aber schon zu hell um die ganze Zeit drinnen zu bleiben. Die meisten Gäste waren gegen acht fertig und anders als sonst, war die zweite Welle ausgeblieben. Als um zehn Uhr die Küche offiziell geschlossen hatte, war er mit vielen kleineren Arbeiten schon fertig gewesen. Den Waffelteig für das Frühstück am nächsten Tag vorbereiten beispielsweise, oder Getränke auffüllen oder das Fett aus der Fritteuse umfüllen und draußen zum Abkühlen abstellen. Das waren Arbeitsschritte, die ihn sonst, wenn abends viel Betrieb war, beim großen Saubermachen dreissig Minuten zusätzlich kosteten. Er wurde nach Stunden bezahlt, aber nach einem Tag in der Küche wollte man nachts so schnell wie möglich fertig werden. Am nächsten Tag ging es meistens wieder von vorne los. Nur morgen nicht, da hatte Finn frei. Der erste freie Tag seit drei Wochen. Zu viele Kollegen waren krank oder hatten gekündigt, oder waren nicht mehr gekommen, als das sein Chef auf seine „verlässlichste Kraft“ verzichten wollten. „Du bist mein Arbeitstier!“, sagte er häufig zu Finn und erlaubte ihm dann, sich ein Bier zu nehmen, bevor er selbst nach Hause ging und die Rechnung machte und ihn in der versifften Küche alleine ließ. Die Kellner machten nie sauber. Sie stellten die Tische zurecht, wischten einmal lau drüber, nahmen sich ein Bier und waren weg. Meist noch mit dem größeren Anteil am Trinkgeld. Immerhin gaben sie etwas davon ab. Nicht viel, aber schon über die Geste musste man sich freuen.
Finn drehte sich eine Zigarette. Seine Finger waren den ganzen Tag in Fett oder in Seifenwasser getaucht und jetzt waren sie aufgequollen und sonderbar glatt. Es gelang ihm kaum, das Papier um den Tabak zu wickeln. Schließlich rauchte er und sah weiter auf den Marktplatz. Vor den Cafés war die Bestuhlung zusammengestellt, die Sonnenschirme gefaltet und nur aus den Lokalen selbst kam noch Licht und manchmal Geräusche aus den Küchen.
Er trat die Zigarette aus. Er hatte vergessen, die Stühle abzuschließen. Sie standen aufeinandergestapelt neben der Treppe, ohne das Drahtseil, das sie zusammenhalten sollte. Das bedeutete, er musste das Rollgitter wieder hochziehen, nach hinten ins Lager laufen, die Drahtseile und das Schloss holen, zurückkommen, die Stühle und Tische damit umwickeln und abschließen.
Kurz überlegte er, ob es eine Möglichkeit gab, das alles nicht zu tun, aber er würde sich nicht entspannen können, wenn er wüsste, dass er nicht sauber zu Ende gearbeitet hätte und auf den Anschiss übers Telefon an seinem freien Tag konnte er auch verzichten. Also schloss er wieder auf und trottete durchs dunkle Restaurant nach hinten. Licht brauchte er auch nicht: den Weg zwischen den Tischen hindurch ging er jeden Tag.
Schnell wickelte er die Drahtseile um Tische und Stühle, drückte das Schloss zu und brachte den Schlüssel wieder rein.
Auf dem Rückweg durchs Restaurant machte er noch einen Schlenker hinter die Bar. Ein Bier noch. Zum diesmal echten Feierabend noch eine rauchen, das Bier auf den Stufen trinken, dann nach Hause fahren, schlafen und sich auf den freien Tag freuen. Duschen. Vor allem duschen. Und dann in die Kiste. Finn malte sich den Genuss aus, am nächsten Morgen, ausgeschlafen, mit einem Kaffee in der Küche zu sitzen und nichts anderes zu tun, als Kaffee zu trinken.
Der Zapfhahn spuckte nur ein paar Schaumflocken, dann war Schluss.
„Scheisse! Was für eine Scheisse! Ihr Arschgeigen! Ich hasse euch!“ Finn zischte und stemmte das Aufaß aus dem Tresen. Es blieb dabei: das Fass war leer. Er trat mit ganzer Kraft dagegen. Mal wieder er. Mal wieder wurde etwas „übersehen“, weil alle wussten: Finn ist der letzte im Laden, der übernimmt alle Aufgaben, die „übrig“ sind. Das machte ihn für seinen Chef so wertvoll. Zwischen vielen Studenten, die nebenbei jobbten und den zwei gelernten Köchen, war auf Finn eben immer Verlass. Von außen sah es so aus, als ob ihm etwas am Restaurant liegen würde, dabei war es bloß seine Arbeitswut, die ihn fleißig und zuverlässig erscheinen ließ. In Wahrheit stürzte er sich in Arbeit und hielt sich selbst so davon ab, nicht immerzu jemanden anzuschreien oder etwas kaputtzumachen. Er mochte es auch zu arbeiten und dabei präzise und fleißig zu sein. Aber er spürte, dass er damit am falschen Arbeitsplatz war und das schon viel zu lange. Beinahe drei Jahre und er konnte fühlen, wie der Stumpfsinn anfing ihn auszuhöhlen. Etwas legte sich über seine Wünsche und Ziele. Das machte ihn unfassbar wütend. Manchmal, wenn die Kellner so beieinanderstanden und nichts taten und er hören konnte, dass sie sich über ihr Studium beklagten und über den Stress, den sie hatten, zitterte er vor Wut auf ihre Faulheit und den Luxus den sie leben konnten. Ihm schoss dann durch den Kopf, wie er ihre Hände im Waffeleisen einklemmte, oder das Fett aus der Fritteuse über sie kippte oder einfach nur wie er vor ihnen stand und sie anschrie.
Es half nicht: er musste ein neues Fass holen und es anschließen.
In der Gasse neben dem Restaurant standen die Mülltonnen und dahinter war eine kleine Tür in die Wand eingelassen, die zu einem Gewölbekeller führte. Der Keller wurde noch von einem weiteren Restaurant als Lager genutzt. Das Komplizierte war jetzt, ein 30 Liter Aufaß auf einer Treppe aus Ziegelsteinen nach oben zu tragen. Die Treppe hatte kein Geländer und wurde nur durch die Kellerwand nach einer Seite begrenzt. Dabei reichte sie vom Boden des Kellers aus gut drei Meter nach oben zur Luke. Beinahe jedes Café oder Restaurant in der Oberstadt nutzte solche Keller. Die Regale reichten bis zur Decke und man hangelte sich auf Leitern durch das schmale Gewölbe.
Finn stemmte sich das Fass auf die rechte Schulter und klemmte es mit dem Arm gegen sein Ohr. Mit dem Kopf drückte er von der anderen Seite dagegen. Nur mit dem linken Arm konnte er irgendwie das Gleichgewicht auf der Treppe ausbalancieren und sich an der Wand abstützen. Jeder Schritt auf den Stufen musste sitzen. Kurz vor der Tür, auf den letzten drei Stufen, musste er das Fass vor sich absetzen. Das Gewölbe näherte sich der Decke an. Durch die Krümmung des Gewölbes verengte sich der Ausstieg und mit dem Faß passte man nicht durch. Finn krümmte sich auf der Treppe zusammen und ließ das Fass vor sich auf die Stufen gleiten. Dann stieg er darüber weg, griff mit einer Hand nach dem Rand der obersten Stufe, quetschte sich zwischen Fass und Kellerdecke durch und zog sich so nach oben. Mit der anderen Hand hielt er weiter das Fass fest. Mit einem Fuß stand er wieder auf den Pflastersteinen und konnte die 30 Liter endgültig nach oben wuchten.
Er stand in der Gasse und stütze sich gegen die Wand. Schnell, bevor, die Erschöpfung ihn vollständig packte, hievte er das Fass zurück auf die Schulter. Die Tür kickte er zu, das Schloss rastete ein und er rutschte über das Kopfsteinpflaster zurück auf den Marktplatz. Egal wie oft man dem Küchenboden wischte, ein Film aus Fett blieb immer zurück und am Ende einer Schicht waren die Sohlen der Arbeitsschuhe glitschig wie weiche Butter.
Endlich saß er wieder auf den Stufen vor dem Restaurant. Ohne dieses Ritual war ein Arbeitstag nicht richtig beendet. Finn brauchte diesen Moment, wenn seine Haut vor Schweiß klebte und er auf den Marktplatz schauen konnte. Die Tür war verriegelt. Das Bierfass angeschlossen und er hatte gleich zwei Gläser davon getrunken. Das dritte volle Glas hatte er mit nach draußen genommen und würde es auch nicht wieder reinbringen.
Das Ritual konnte ihn nicht beruhigen. Er ärgerte sich immer noch. Nicht bloß über das Fass — da war noch mehr. Die Arbeit als Aushilfe erfüllte ihren Zweck: er kam klar. Sie war vor drei Jahren nur als Übergang gedacht gewesen. Er hatte damals nicht gewusst, wie es weitergehen sollte und war bloß in die Stadt gekommen, weil er es zu Hause, in seiner Heimatstadt nicht mehr ausgehalten hatte. Und für seine Freundin. Die war weggezogen zum Studieren und er konnte immer noch nicht sagen, was er mit sich anfangen sollte. Er wusste bloß, dass dieser Job ihm den Mut nahm, größer zu denken. Dass ihn die Wiederholung der immer gleichen Aufgaben aushöhlte. Es war ja nicht so, dass er kochte. Zu dieser Ausbildung konnte er sich auch nicht entschließen. Er bediente auch nicht an den Tischen, oder saß im Büro und machte Bestellungen — er war der Typ, der hinter allen herräumte und das nur, weil ihm nichts Besseres für sich selbst einfiel. Er hatte kochen wollen, aber der Chef hatte das schnell unterbunden.
„Wer macht dann deine Arbeit? Denk nicht mal dran!“ Damit war der Vorstoß beendet gewesen. Finn hatte das Pech als Putzer und Aufräumer unentbehrlich zu sein. Und das stimmte auch: Finn sah, wenn etwas im Weg stand, wenn Abfälle auf dem Fußboden zu Bergen wuchsen, wenn Wein fehlte und eine Gesellschaft von zehn Leuten anrückte — er sah Probleme voraus und erledigte sie, bevor jemand anderes merkte, dass nicht genug Wein bereitstand, oder man beinahe auf Kartoffelschalen ausgerutscht wäre. Weil er schneller war im Abwenden kleinerer Katastrophen, bemerkte niemand seine Leistung oder seinen Wert. Nur manchmal kam etwas wie: „gut, dass du gerade noch schnell Wein geholt hast. Da sind eben zehn Gäste gekommen und wir hatten nicht genug oben.“ Seine Fähigkeit wurde als Zufall abgetan. Nur der Chef sah und wusste, wie Finns Aufmerksamkeit das Getriebe seines Restaurants schmierte. Um kein Geld der Welt hätte er ihn hergegeben.
Es provozierte Finn, dass seine Kollegen nicht sahen, was er sehen konnte: ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Details ihrer Arbeit, ihre Gewissheit darüber, dass jemand anderes rechtzeitig zur Stelle sein würde, machte ihn wütend. Sie, seine Kollegen hatten Jobs mit Verantwortung, auch wenn die nur darin bestand nicht das Tischtuch zu bekleckern und sich möglichst servil zu geben. In drei Jahren hatte Finn einen Ehrgeiz entwickelt, noch schneller als alle anderen kleine Fehler zu entdecken und sie auszubügeln. Heimlich zählte er mit, wie oft er jemandem zuvorkam. Irgendwie gab ihm dieser Wettlauf ein Gefühl von Zugehörigkeit und manchmal, wenn er einen gröberen Fehler bereinigte, etwa einen vergessenen Salat bereitzustellen, ehe der Kellner merkte nur drei davon an einen Vierertisch gebracht zu haben, sogar etwas von Überlegenheit in seiner sonst so unsichtbaren Position.
Während der Arbeitsschicht, hatte er gehört, dass im „Schluck“ Jam Session sein sollte und da wollte er hin. Außerdem wusste er, dass eine neue Kellnerin da angefangen hatte und die wollte er sich anschauen.
Durch die Stiefelgasse und dann hoch bis zum Oberstadtaufzug brauchte er keine fünf Minuten. Der „Schluck“ war zum Bersten voll. Neben der Tür packten zwei Musiker ihre Instrumente aus, als Finn reinkam. Ein Bassist, groß wie sein Kontrabass und einer mit grauem Zopf und Saxophon. An einem Tisch an der Wand konnte Finn sich auf einen Barhocker zwängen. Er winkte, bis ein Bier von einem der Tablets, die durch den Raum wanderten, bei ihm abgestellt wurde. Es war wohl ein Soli-Konzert für irgendwas und man sollte zahlen, soviel man wollte oder konnte.
Die Musiker legten los: sie improvisierten sich zu zweit durch Jazz — Akkorde, aber es fehlte entweder Stimme oder Piano und sie blieben ziemlich blass. Aber immerhin Musik. Finn lehnte sich an die Wand und machte die Augen zu. Die Kneipe um ihn verschwand und er stellte sich vor, gar nicht mehr in Marburg zu sein, sondern in Antwerpen oder in Brest oder in einem Nationalpark, wo er Wilderern nachging und Tierbestände kontrollierte. Er träumte sich weg, bis ein Lachen, wie von einem Papagei, ihn zurückholte. Auf der anderen Seite der Kneipe waren mehrere Tische zusammengestellt worden. Eine Gruppe von etwa zehn Leuten redete wüst durcheinander. Vor ihnen häuften sich leere Gläser, Aschenbecher, Erdnussdosen und Kniffelbecher, samt Würfeln. Irgendetwas war mit ihnen. Nicht bloß, dass sie betrunken waren. Finn suchte, was an dem Anblick der besoffenen Tafelgemeinschaft nicht passte. Er beobachtete, wie sie sich anfassten beim Sprechen, mit den Händen über den Tisch tasteten, bis sie Feuerzeug oder Bierhenkel wiederfanden und dann verstand er: die Leute waren blind. Jetzt sah er auch die Armbinden und einen gefalteten Blindenstock auf dem Tisch. Wieder hörte er das kieksende Lachen und sah diesmal auch, wer lachte: am Kopfende der Tafel saß ein Mann mit Sonnenbrille zwischen zwei Frauen und schnappte nach Luft. Er krampfte sich zusammen vor Lachen und tastete, sobald er atmen konnte über den Tisch nach einem Schnapsglas. Die Frauen stellten es immer wieder woanders hin, klopften mit dem Glasboden, um ihm Zeichen zu geben. Das Ganze ging irre schnell. Dann erwischte er das Glas und trank es leer. Sie tauschten, wer suchen musste und wer das Glas wegzog. Der ganze Tisch spielte das Spiel. Das Glas und die Wodkaflasche wurden weitergereicht, sobald jemand das Glas oder die Hand, die es hielt und es auf den Tisch klopfte, gepackt hatte. Das Spiel lief leicht um den Tisch und nur selten brauchte jemand mehr als drei Versuche, bis er oder sie trinken durfte. Finn wollte sich dazusetzen, mitspielen, betrunken werden und genauso leicht und albern nach dem Glas patschen. Er schaute weiter zu und verkniff sich mitzulachen. Von einem Tablett nahm er noch eine Bierflasche und füllte sie in sein eigenes Glas um.
„Bist du aus dem E.?“
„Was?“ Finn drehte sich um.
„Du bist Finn, richtig?“
„Ja. Bist du die Neue?“
„Die Neue — so redet ihr also. Ich bin Maya.“
Maya streckte ihm die Hand hin. Sie trug ein schwarzes Shirt über einem schwarzen Rock und einer schwarzen Strumpfhose. Ihre Augen waren mit schwarzen Strichen geschminkt und in der Nase war sie mit einem goldenen Ring gepierct. Goldene Ringe hingen auch an ihren Ohren und Handgelenken.
„Woher weißt du, wer ich bin?“ Wollte Finn wissen und hielt ihre Hand fest.
„Dein Chef und mein Chef haben gestern hier gesessen. Sie haben über dich geredet. Und außerdem habt nur ihr Krusovice.“ Sie zog ihre Hand weg und zeigte auf sein Bierglas mit dem Emblem der Biermarke Krusovice.
„Ah ja,“ sagte Finn dröge, „was haben sie geredet? Über mich?“
„Dass ohne dich nichts läuft im E.“
„Ah ja?!“
„Ja. Ich muss. Bleib doch noch.“ Sie stellte ihm noch eine Flasche auf den Tisch und ging zurück zur Bar.
Finn blieb und entspannte sich langsam. Die Kneipe leerte sich. Nur der Tisch der Blinden blieb laut. Der Große und der Graue spielten weiter ihre Akkorde. Mittlerweile klang alles gleich oder nach Wiederholungen, die sie wahrscheinlich seit Jahren während ihrer Sessions spielten.
Maya setzte sich zu ihm. Sie strich sich Schweiß von der Nase.
„Irgendwie trinken alle nochmal mehr, wenn gejammt wird. Was ist denn so lustig?“ Fragte sie, als Finn nicht gleich reagierte.
Er grinste und deutete mit dem Kinn zum Tisch der Blinden.
„Das findest Du lustig?“ Ihre Augenbrauen wurden ein schwarzer Strich.
Finn nickte und sah weiter den Betrunkenen bei ihren Gesprächen und dem Trinkspiel zu.
„Die sind blind! Darüber machst du dich lustig.“
Viel zu spät sah er ihr ins Gesicht und konnte nichts mehr tun: sie musterte ihn wie eine Schabe.
„Nein Maya, ich weiss, dass sie blind sind, aber…“„Aber trotzdem kann man sich über die lustigen Blinden amüsieren. Die sind doch so lustig besoffen.“
„Nein, warte mal…“ Maya war aber schon zwischen den Tischen unterwegs und räumte ab. Nach einer Schicht konnte ein Wort das Ventil für die Giftigkeiten eines ganzen Tages öffnen und dann wurde der beschossen, der am Nächsten war. Finn hatte das Ventil geöffnet. Er schob Geld unter die Flaschen vor sich. Er wusste selbst nicht mehr genau, was ihn zum Lachen gebracht hatte. Irgendetwas in der Selbstverständlichkeit, mit der sie sich hinter den Mond tranken und sich gegenseitig mit ihrer Beeinträchtigung neckten — aber nachdem Maya ihn verurteilt hatte, war auch das Gefühl weg.
Das leichte Gefälle der Wettergasse trieb ihn wieder in Richtung Marktplatz. Mit dem leeren Glas in der Hand ließ er sich den Hang nach unten tragen und bog in den Schuhmarkt ab. Im „Hopfen“ erwartete ihn das gleiche Gedränge wie jedes Wochenende. Dicke Holzbalken in unmöglichen Verstrebungen unterteilten das Fachwerkhaus auf drei Etagen in eine Kneipe mit gemütlichen Winkeln, schrägen Wänden und dem Geruch von Holz, das seit hundert Jahren Bier und Rauch atmete. Im zweiten Stock setzte er sich an die Bar.
„Ah, sogar mit eigenem Gläschen“, Jörg langte über die Holzplatte. „Ich mach mal voll, ne?“
„Habt ihr noch was aus der Küche?“
„Paar Reste bestimmt. Ich frag mal.“
Die Reste waren ein riesiges Jägerschnitzel mit Rahmsoße, Salat und Pommes. Er beobachtete das Tischkicker Turnier am Ende des Raumes. An einem langen Tisch neben der Bar sprach eine Gruppe Studenten über Pläne für das nächste Semester. Es waren Biologiestudenten und welche von den Orientwissenschaften und Literaturstudenten. Finn starrte auf das Glas, das er zwischen seinen Händen presste und lauschte auf jedes Wort, das hinter ihm gesprochen wurde.
Es ging um Auslandsaufenthalte, die sie bereits gemacht hatten und die sie noch planten: eine Studentin bildete das Zentrum. Ihre Stimme kroch Finn über den Rücken, während sie von einem Forschungsprojekt über das Laichverhalten von Zitronenhaien sprach. Sie hatte die Semesterferien auf einer Inselgruppe in der Karibik verbracht, war jeden Morgen durch die Mangrovenwälder gefahren und hatte Junghaie gefangen, vermessen und katalogisiert. In Finns Bierglas tauchte ein Gesicht und die Gestalt zu der Stimme in seinem Rücken auf: ein großer Mund erzählte von der Erfahrung während des Projekts, von der Sonne ausgebleichte Locken sprangen um braune Augen, eine Tätowierung, ein Kompass, zierte die Haut zwischen den Schulterblättern, beim Sprechen strich sie immer wieder über ihren Hals und fasste jeden an, mit dem sie sprach. Eine andere Stimme schaltete sich ein, eine jüngere, aber in Finns Glas erzählte weiter der Frauenmund. Diesmal von einem Austausch nach Teheran. Der Sprache wegen. Wieder eine andere Stimme erzählte von Partys in einem Cottage in den schottischen Highlands. Finn sah alles: er sah sich selbst im flachen Meer der Mangroven zwischen Kommilitoninnen in kurzen Jeans und Bikini stehen, einen jungen Zitronenhai aus einem Kescher fischen, um dann in fließendem Persisch mit der Professorin aus Teheran über die Partys der Literaten in den Highlands zu fachsimpeln und ihr Tipps zu Whiskybrennereien zu geben, die man unbedingt besucht haben musste. Er wollte weiter träumen, weiter den Geschichten hinter sich zu hören und in den Welten in seinem Glas verschwinden — aber plötzlich hielt er es nicht mehr aus. Die Brandblasen auf seinem Unterarm, die Schnittwunden an den Fingerkuppen, die Geruchswolken aus Schweiss, Fett und Rauch, die aus seiner Kleidung aufstiegen, erzählten von einem anderen Leben. Von einem Leben, das er führte, obwohl er es nicht wollte. Von einem Leben, in dem er festhing, weil er nicht wusste, wie er hineingeraten war und in das er sich verstrickt hatte, ohne zu wissen wo und in welcher Richtung er an sich ziehen musste, um aus dem Knäuel wieder freizukommen.
Ohne nach dem Tisch und den vollen Lippen in den Lockengesicht zu sehen, sprang er auf, schmiss einen Geldschein in die Rahmsoße und fiel die Holztreppen mehr nach unten, als dass er lief. Er blieb nicht stehen. Auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster hastete er wieder hoch zum Marktplatz. Zurück zum Ankerplatz seines falschen aber realen Lebens.
Der Abend war vorbei. Gelaufen, ohne Erlebnis, ohne Belohnung für drei Wochen Schinderei. Finn setzte sich wieder vor das Restaurant. Das leere Glas stellte er neben sich auf die Stufen. Er konnte bloß noch nach Hause. Duschen, dann schlafen und den nächsten Tag im Bett bleiben, bevor alles wieder von vorne anfangen würde.
Jemand stand neben ihm. Ein Typ in Jogginghose und Lederjacke.
„Hast Du mal Feuer?“ Unter der Kapuze des Pullovers ließ sich das Gesicht nicht gleich erkennen. Erst als die Flamme kurz einen Schein darauf war, fiel Finn der Name ein.
„Mischa?“ Fragte er, unsicher ob er mit der Vermutung richtig lag.
„Finn? Ja klar. Du bist Finn!“
„Ich habe dich ewig nicht gesehen.“
Sie umarmten sich. Etwas überrascht von der plötzlichen Geste standen sie voreinander.
„Wo warst Du?“ fragte Finn endlich. „Niemand wollte mir sagen, wo du warst.“
„Wer wollte dir nichts sagen?“ Mischa fixierte ihn „Hast Du wen gefragt?“
„Naja, ja, schon — sonst geh ich immer zu dir und du hast auch klar gemacht, ich soll nur zu dir gehen. Du warst halt nicht da. Da habe ich gefragt.“
„Wen hast du gefragt?“
„Na deine, die Jungs, die dann halt da standen, wo du sonst warst.“
„Auf der Seite von deinem Haus oder auf der Seite von der Pizzeria?“
„Man Mischa, glaubst du ich bin doof oder so? Auf der Seite vom Haus natürlich.“
„Und da hast du auch gefragt?“ Mischa hielt immer noch Finns Arm fest.
„Ja.“
„Sonst niemanden?“
„Was bist Du paranoid. Ich habe nur deine Jungs gefragt und die haben nichts gesagt. Bloß, dass du halt weg bist.“
„Ja, war auch so. War weg. Bin wieder da.“ Er schob die Kapuze seines Pullovers zurück und grinste Finn fett entgegen.
„Alles beim Alten, Bruder? Mischa ist zurück.“
„Und wo warst du?“
„Finn Baby, dafür dass du seit drei Jahren bei mir kaufst, bist du echt dämlich. Glaubst du ich geh mal eben in Urlaub?“ Er packte Finns Backe zwischen Daumen und Fingerkuppe und kniff ihn. „Kein Stress Kleiner. Willst Du was?“ Er zog eine Flasche Jägermeister aus der Innentasche seiner Jacke.
„Ja, ja — schon. Und, ich meine, hast du gesessen?“
Mischa goss Jägermeister in Finns Bierglas.
„Später ja? Jetzt feiern wir erstmal. Ich freu mich, dich zu sehen Kleiner. Wirklich. Du bist korrekt. Ich habe nie mit ‘nem Kunden geredet, wirklich geredet, außer mit dir. Komm — ich weiß eine Party, eine Studentenparty, lass da hin.“ Er packte Finn an der Schulter und zog ihn vom Restaurant weg, wieder in Richtung Wettergasse. Mischa redete ohne Pause, reichte Finn Zigaretten, sobald der eine ausgeraucht hatte und schenkte nach jedem Schluck Jägermeister ins Bierglas. Sie liefen am „Schluck“ vorbei, über den Hügel der Oberstadt, runter zur E. — Kirche.
„Die erste gotische Kirche in Deutschland. Hindenburg liegt da. Wusstest Du das?“
„Naja, ist halt eine Kirche, oder?“
Nein! Nicht irgendeine Kirche.“ Mischa blieb stehen. „Hast Du mal dringesessen? Nachts, alleine? Wenn man da sitzt, alleine und nur ein bisschen Licht kriecht in die Schatten, da spürt man erst wie einen das beeindruckt. Wie dieser Bau einen umhaut. Man spürt das Alter richtig tief in den Knochen. Da spürst du Zeit. Wie das gemacht wurde. Diese Bögen. Das ist der Wahnsinn. Ich kann da gut nachdenken, weißt du, das geht nirgends besser als nachts in einer Kirche. Man muss nur reinkommen!“
Finn wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte.
„Interessiert dich das nicht? Ist doch spannend, was so an Kultur vor einem geschehen ist. Ich habe mal Kunstgeschichte studiert, aber nicht so lang.“
„Hast Du noch mehr studiert?“
„Biologie.“
„Von Kunst zu Bio?“ Finn quetschte sich ein Lachen ab. Für ihn war allein der Weg an die Universität unfassbar weit. Dann, dort angekommen, so einen Wechsel hinzulegen, ließ ihn in seinem gebastelten Lebensentwurf zusammensinken.
„Mein Abi war ziemlich gut. Und ich wollte eben was ausprobieren. Mir ist das alles viel zu leichtgefallen. Bin zu schlau für die Uni.“
„Und was hast du dann noch studiert?“
„Nichts. weißt du doch. Ich deale und sitze hin und wieder ein.“
„Wieso denn?“ Finn regte das auf, „wieso, wenn du doch an der Uni warst?“
„Ach Finn — Baby, ist eben so gekommen,“ Mischa schlug ihm auf den Rücken, „vielleicht brauchte ich Geld, oder den Kick, oder ich wollte ausbrechen, oder Respekt, oder bloß meine Eltern schocken — wahrscheinlich von allem etwas. Das ist meine Normalität. Die Uni war Ausnahme. Reg dich nicht auf.“
„Hast du sie denn geschockt?“
„Meine Eltern? Die reden nicht mehr mit mir, seit ich das erste Mal vor Gericht war. Da war ich sechzehn. Sie haben meine Sachen auf die Straße gestellt. Ich wohne bloß zwei Straßen weiter seitdem. Ich sehe sie jeden Tag. Ich habe Geld, ich habe überall Wohnungen — wohne aber immer noch in meinem alten Viertel. Manchmal will ich rüber gehen, wenn sie vom Einkauf kommen und die Tüten nehmen und sie hochtragen, Tee für sie kochen und einfach — man Finn-Baby, bei dir fange ich das Quatschen an. Schluss jetzt! Sonst heul ich gleich noch richtig rum.“
„Dann heulst du eben rum. Mich stört es nicht.“
„Nee, nee, lass mal. Was ist mit dir Küchenjunge? Wieso studierst du nicht?“
„Das ist genau die Frage!“ Finn schüttelte Mischas Hand von seiner Schulter und bog nach „Zwischenhausen“ ab. Mischa holte ihn ein.
„Warte mal. Ich habe erzählt, jetzt du.“
„Wo gehen wir hin? Sag mir das jetzt.“ Finn spürte, dass er wütend wurde — ohne jeden Grund kochte es hinter seinen Augen.
Mischa grinste. „Auf eine Party. Hab ich doch gesagt. Eine WG-Party. Irgendwo hier muss die sein.“
„Da kann ich jetzt nicht hin.“„Was ist denn auf einmal?“
„Wir haben so geredet — und dann fragst du mich wieso ich Küchenjunge bin…“
„Ja und? Wieso bist du denn Küchenjunge?“
„Ich weiss es nicht! Ich weiss nicht mehr, wieso ich damit angefangen habe!“
„Das ist doch Quatsch!“
„Ist es nicht — ich hänge fest. Ich hänge in diesem Job fest, in dieser Stadt, mit den ganzen Typen in ihren miesen Kneipen und schlechten Restaurants.“„Karma — Pfütze.“ Mischa schlürfte seinen Jägermeister wie Rotwein.
„Bitte was?“
„Marburg ist eine Karma — Pfütze. Hier werden alle depressiv.“„Aha und das weißt du als Profi! Ein Dealer, der nicht den Mut hat, mit seinen Eltern zu reden — oder wegzuziehen. Du weißt also, dass ich depressiv bin?!“ Finn schlug Mischa die Jägermeisterflasche aus der Hand. Sie zersplitterte auf dem Kopfsteinpflaster.
„Ja!“ Sagte Mischa und zog eine weitere, kleinere Flasche aus der Jacke. „Du musst von hier sein, eine angeborene Immunität haben, sonst lutscht die Stadt dich aus. Ich bin immun.“ Mit großer Bewegung kippte er die kleine Schnapsflasche in Finns Glas aus.
„Das ist doch dämlich.“
„Trink Bruder, trink. Dann erzähl mir.“
Sie gingen über die Deutschhaustraße, rüber auf den Platz vor der E.-Kirche. Mischa hatte sich bei Finn eingehakt und sang leise irgendein Volkslied. Vor der Kirche setzten sie sich.
„Ich weiß eben nicht mehr, wo ich anknüpfen soll. Ich wollte ja mal studieren, oder wenigstens irgendwas machen, was mich weiterbringt.“„Hast du Abitur?“ Mischa schaute prüfend, wie ein Student in Teilzeit bei der Studentenberatung.
„Ein mieses. Aber egal. Ich bin einfach platt nach so drei Wochen wie jetzt. Da ist dann keine Power mehr, sich zu fragen was man will, oder mal in eine Vorlesung gehen oder zur Berufsberatung. Da ist keine Zeit in meinem Leben außer für den Job und Schlafen. Mehr ist da nicht.“
„Du bist Küchensklave.“
„Ja.“
„Können deine Eltern dich nicht freikaufen?“
„Ach, Eltern.“
Sie blieben eine Stunde vor der Kirche. Finn erzählte. Er erzählte, ohne weiter darüber nachzudenken, dass er Mischa kaum kannte. Er wusste bloß, dass der einen Kampfhund hatte — ein blödes, aber treuherziges Vieh mit Stachelhalsband, dass sein BMW maximal tiefer gelegt war und Felgen groß wie Bistrotischplatten hatte. Finn redete, Mischa hörte zu und stellte nur zwischendurch ein paar Fragen. Als plötzlich Musik über den Kirchenvorplatz hallte, drückte er Finns Arm.
„Siehst du die da?“, fragte er und zeigte auf eine Gruppe von Leuten, die zum Sound ihrer JBL Box aus dem Steinweg kamen.
„Ich kenne den Typen in dem Rosa Pulli. Der kauft bei mir.“
Der Typ in dem rosa Pulli lief in Fila Sneakers, in einer schwarzen Jogginghose und mit einer goldgerahmten Brille an ihnen vorbei.
„Der Bastard will mich nicht kennen,“ grunzte Mischa und ließ die Hand, mit der er gewunken hatte wieder fallen.
„Ich hasse diese Marshmallow-Menschen! Schau sie dir an. Alle glattrasiert wie Säuglingsärsche. Eingepackt in eine Welt ohne Kanten. Alles nur rosa Zuckerwatte um sie rum. Aber mich kennt er nur, wenn’s dunkel ist und er mich braucht.“ Mischa sprang von der Bank.
„Komm Finn Baby. Wir müssen denen nach. Die bringen uns zur Party.“
„Ich dachte, du weißt wo die Party ist.“
„Irgendwo ist immer eine. Jetzt haben wir einen Namen und können sagen, wir gehören zu ihm.“ Mischa zeigte auf den Rücken in rosa. „Dann lassen die uns rein.“
Er zog Finn hinter sich her und hakte sich unter, sobald sie auf einer Höhe gingen. Die Gruppe vor ihnen trödelte in ihrer Musikblase die Biegenstraße runter. Aus der Box suppte der immer gleiche Teppich aus weichen Beats und verzärtelter Melodie. Mischa strahlte und summte wieder ein Lied vor sich hin.
„Man! Was soll das? Ein Dealer und ein Küchenjunge auf einer Studentenparty? Das ist doch scheisse.“ Finn bekam wieder schlechte Laune.
„Ey! Ich war mal Student und du bist auch bald einer. Jetzt kneif nicht. Das wird gut.“
Nach etwa fünf Minuten, in denen sie der pastellrosa Gruppe hinterhergelaufen waren, folgten sie ihr durch eine Haustür und weiter eine Treppe nach oben, durch ein Treppenhaus mit kahlen Backsteinen, die stellenweise unter dem Putz hervorkamen. Über ihnen ging eine Tür auf. Laute Stimmen und Musik sagten ihnen, dass sie in den dritten Stock mussten. Die Tür war wieder zu, die Herde, der sie gefolgt waren, war in der Wohnung verschwunden. Mischa klingelte und klopfte gleichzeitig. Irgendwie gelang es ihm, sich als Freund von Frank, dem Pulliträger, auszugeben und als er ein Gastgeschenk ankündigte und mit einem Tütchen Gras zwischen den Fingern winkte, waren sie drin.
Die Party hatte schon gut Anlauf genommen. Aus den meisten Gesichtern strahlten Alkohol und Drogen. Die Wohnung war wie eine typische WG in Marburg eingerichtet: die Küche mit Gasherd, Spülbecken und Kühlschrank, vermutlich alles von einer WG — Generation an die nächste weitervererbt, war, wie überall, Haupttreffpunkt. Auch jetzt standen die meisten Partygäste in der Küche. Aus dem Wohnzimmer, einem Verhau unterschiedlicher, von Sperrmüll und Trödelmarkt zusammengeklaubter Möbel zum Liegen, kam die Musik. Über Weinkisten war das DJ Pult aufgebaut und ein Typ in einem weiten weißen T — Shirt befingerte die Turntables. Wahrscheinlich sein erster Auftritt, dachte Finn und drückte sich zwischen den Tanzenden zum Balkon durch. Der Balkon war die übliche Mischung aus Aschenbecher, Bierkistenlager, Liegestühlen und dem Versuch der Selbstversorgung: zwei Setzkästen mit Kräutern und ein Kübel mit einer Tomatenpflanze unterstrichen den Willen der WG, mehr zu sein als eine Zweckgemeinschaft. Der kleine Streifen Frischluft war dicht besetzt von Rauchern und Finn angelte sich ein Bier aus einem der Kästen. Fürs erste hatte er seinen Platz auf der Party gefunden und die Berechtigung hier zu stehen, ohne zum Small Talk gezwungen zu sein. Mischa hatte er aus den Augen verloren.
In der nächsten Stunde tingelte Finn zwischen Balkon, Tanzfläche und Küche hin und her. Er sprach kaum, erhaschte zwischendurch einen Zug von einem Joint und ließ sich ansonsten von der Musik und den Bewegungen der anderen treiben. In den restlichen Zimmern der WG — vier Menschen wohnten in der Wohnung zusammen — lagen und saßen kleine Gruppen vertraut beieinander, so dass für WG-Fremde keine Möglichkeit bestand dazu zu kommen. Mischa hatte sich dagegen mit seinem Gastgeschenk gleich Freunde gemacht und fütterte jetzt eine Gefolgschaft mit Informationen zu verschiedenen Drogen und deren Wirkung. Finn beobachtet eine Weile, wie er Tütchen und Fläschchen vor sich aufbaute, Proben in Nasen und auf Zungen verteilte und dabei ohne Pause redete. Er pries seine Ware an wie ein Händler edler Weine. Er winkte Finn zu sich, während er schmale Lines zum Probieren auf der gläsernen Tischplatte vor sich vorbereitete. Seine Kunden probierten und Mischa reichte Finn das Koks auf seinem Personalausweis, schon fertig, als lange dicke Line.
Die Party wurde schlagartig besser. Finn war nicht länger Fremdkörper. Er tanzte, war in Gespräche verwickelt und vergaß völlig seine Angst, als Nicht — Student rauszufallen. Er fühlte sich gut. War Teil einer schönen Nacht. Er unterhielt sich über Politik, über Bücher, über das Leben in Marburg —
Die Party hatte ihren Peak erreicht. Immer mehr Menschen waren gekommen. Manche bloß, weil sie von der Straße aus Musik gehört hatten. Eine Nebelmaschine und mehrere Partylichter vervollständigten das Club Gefühl.
Im Bad ging eine andere Party: vier Nackte quetschten sich in der Badewanne und wer zur Toilette musste, konnte es nur vor ihnen. Sie waren allerdings schon so hinüber, dass es auch nichts machte. Nachdem Finn aus dem Bad zurück war und hoffte, auf keinem Handyfoto aufzutauchen, rettete er sich in die Küche. Schnell geriet er in ein Gespräch, ein völlig belangloses, über Fußball, den DJ im Wohnzimmer und Finn wollte eben weiter, als jemand von der Kneipe „Schluck“ anfing. Die Mitbewohnerin würde dort arbeiten.
„Heißt sie Maya?“ fragte Finn.
„Ja. Kennst du sie?“
„Nur flüchtig.“
„Sie wollte eigentlich auch kommen, war aber zu müde nach ihrer Schicht. Naja, bei dem Lärm kann sie eh nicht schlafen.“
„Wieso?“
„Sie wohnt gleich oben drüber.“
Finn verzog sich wieder auf den Balkon. Irgendwie veränderte die Information, dass Maya eine Wohnung höher wohnte die Party für ihn. Finn rauchte und inhalierte jeden Zug tief.
Dann kam doch der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte. Er unterhielt sich schon für länger als eine Zigarette mit einer Studentin in einem weißen Hemd. Das Hemd hatte sie in ihre Jeans gestopft und die obersten Knöpfe standen offen. Es war angenehm mit ihr zu sprechen und der Blick in ihr Hemd war großartig. Sie redeten über WG Partys allgemein und überlegten, wieso es sich meistens mehr lohnte privat zu feiern als beispielsweise ins „Trauma“ zu gehen.
„Was studierst du eigentlich?“, die Frage kam unschuldig und so lächelte sie auch.
In Finns Kopf explodierten die möglichen Antworten mit allen möglichen Konsequenzen. Er hatte in solchen Situationen bislang immer gelogen und irgendetwas behauptet. BWL, da fragte niemand weiter nach. Er entschied sich diesmal anders.
„Ich studiere nicht,“ antwortete er und streckte vielleicht das Kinn ein bisschen nach vorne.
„Ah, du machst ein Urlaubssemester. Das hatte ich auch schon überlegt, hatte aber immer Sorge, dann doch den Anschluss zu verlieren.“
„Nein. Ich studiere nicht. Ich arbeite.“
„Bist Du schon fertig?“
„Ich arbeite im E. am Marktplatz. Als Küchenhilfe.“
„Wirklich? Ich war mir sicher du studierst.“ Ihr Lächeln glitt etwas ab und sie suchte in seinem Gesicht nach dem Anzeichen für einen Scherz. Mit einer Hand zupfte sie das Hemd über ihrem Ausschnitt weiter zusammen.
„Ja. Seit drei Jahren bin ich im E. Warst Du mal da? Vielleicht habe ich dir etwas Süßes zum Nachttisch gemacht?!“ Es kitzelte ihn, die Grenze noch weiter zu verschieben, bis sie ihn als Küchenhilfe als würdig annahm und sich weiter mit ihm unterhielt oder zugab, dass er sie jetzt nicht mehr interessierte und sie mit seiner Lebensrealität nicht umgehen konnte oder wollte.
„Nein,“ sagte sie und tat so als müsste sie überlegen, „nein, da war ich noch nie. Und du arbeitest da in der Küche — und du, also…“
„Der Job ist toll. Ich mache das, weil es mir gefällt. Ich will nichts anderes.“
„Ah ja.“ Dann traf sie ihre Entscheidung und sagte, dass sie nach einer Freundin schauen wollte. Finn sagte artig tschüss und fühlte sich als hätte er etwas gewonnen, dabei wusste er, obwohl er high war, dass er sich lediglich unverschämt verhalten hatte und sie praktisch gezwungen hatte wegzugehen. Er drängte zurück auf die Tanzfläche und verschaffte sich Platz. Dann fing er wahllos an die Leute um sich her anzutanzen. Dabei sah er immer nach den Jungs und wettete mit sich selbst, wer von ihnen die Herde beschützen würde. Aber niemand wollte ihn anschauen. Er wusste, dass er sich danebenbenahm und das wollte er so. Er wollte das Arschloch sein, über das sich dann alle in der Uni, in der Mensa, in der Bibliothek das Maul zerreißen konnten. Er wollte der primitive Küchenjunge sein, der auf Koks Studentinnen an gräbt. Die Stimmung gegen ihn wurde immer feindseliger — eskalierte dann aber aus einer völlig anderen Richtung.
Der Typ im rosa Pulli, Frank, schubste Mischa im Flur vor sich her. Hinter ihm kamen noch mehr — alles Typen. Gemeinsam drängten sie Mischa zur Wohnungstür. Sofort kippte die Aufmerksamkeit in den Flur. Wer konnte verzog sich in die Küche oder in ein anders Zimmer. Mischa zog den Kopf ein und ließ sich schubsen. Er wich bei jedem Stoß vor die Brust zurück. Plötzlich war auch die Musik aus. Wie um noch mehr Dramatik in den Streit zu legen, war Schweigen Drumherum geboten. Finn drängte sich aus dem Wohnzimmer in den Flur und stellte sich vor Mischa.
„Hey!“ rief er und fing einen Stoß ab, „Was soll das?“
„Gehört ihr zusammen?“ Frank schwitzte.
„Ja. Tun wir.“„Der verkauft Drogen.“
„Ja?! Und? Das wusstest du wohl schon den ganzen Abend oder?“
Mischa zupfte an Finns Schulter, damit der aufhörte den Streit weiter anzuheizen.
„Er behauptet, wir seien Freunde.“„Naja, du bist sein Kunde. Wo ist das Problem?“
„Er soll abhauen. Die Geschäfte wollen wir hier nicht.“ Frank schwitzte noch stärker.
„Wir gehen! Wir gehen!“ Mischa zog Finn mit sich aus der Wohnung.
„In dein Dreckviertel komme ich sowieso nicht mehr.“
Wie Gnus standen sie hinter Frank und versperrten die Tür mit ihren Körpern.
„Bist Du nicht der Typ aus dem E.?“ Unter dem Schweiß strahlte Triumph. „Ja, du bist da so der Laufbursche. Er ist neulich für mich in den Keller, als ich eine Kiste von dem Wein haben wollte. weißt du, den Wein habe ich dann nicht getrunken. Ich habe ihn weggekippt. Er hat mir nicht geschmeckt.“Johlend zollten die Gnus Beifall.
„Was hast du hier verloren?“
„Und du? Gehörst doch auch nicht hier her. Du bist nicht weniger Tourist. Du lebst sicher nicht in einer WG oder? Nein. Du kommst her, um die mal ein bisschen von dem Flair reinzuballern. Du bist Tourist. Was erzählt er euch?“
„Ich kann gehen wohin ich will!“ Franks Pulli wurde lila, so viel Schweiß musste der Stoff aufnehmen.
„Dann geh du doch. Geh. Du gehörst hier nicht hin!“
„Ich kann gehen wohin ich will! Wohin ich will! Wohin ich will!“ Frank schrie und wurde immer lauter. „Du bist hier falsch. Küchenjunge. Geh putzen. Putz doch gleich hier mal nach der Party. Ja genau, komm morgen früh und putze. Kannst ja gleich ein Frühstück mitbringen. Ich zahle auch.“ Frank zog einen Fünfziger aus der Tasche und wedelte damit vor Finns Gesicht.
Plötzlich schlug Finn zu. Seine Faust grub sich in das Marshmallow — Gesicht. Etwas knackte, aus dem Gesicht stach ein Schrei und pastell — rotes Blut quoll aus der Nase hervor. Die Augen, aufgerissen und fassungslos über den Zusammenbruch einer Weltordnung, lockten ihn, auch sie rot, blutrot zu schlagen, bis sie nicht mehr aufgingen, bis sie sich schlössen vor dem Anblick einer Welt ohne Illusionen, ohne Ordnung, ohne Puffer aus Marshmallow — Zuckerwatte. Schon riss er die Faust zurück, ballte sie hinter seinem Kopf erneut, wollte das Gesicht vor ihm aus seinem gewohnten Rahmen heraus prügeln, aber Mischa stellte sich dazwischen. Er packte Finn an der Kehle. Er brüllte irgendetwas, was Finn nicht hörte und drückte ihn über den Hausflur bis gegen die Tür der Nachbarn.
„Komm runter! Komm runter! Komm runter!“ brüllte er immer weiter und quetschte Finn die Kehle zu.
Hinter ihnen wurde die Tür zugeschlagen. Ein Schloss schnappte zu und sie hörten bloß noch die Stimmen aus der Wohnung, die durcheinanderschrien und offenbar die Polizei anriefen.
„Ich bin ruhig. Lass los.“
Mischa öffnete probehalber den Griff.
„Man, Finn — Baby, du bist richtig durch. Komm wir hauen ab.“Auf halben Weg nach unten entdeckte Finn sein Bierglas. Er hatte es vorhin auf einem Fensterbrett im Treppenhaus abgestellt.
„Warte kurz.“ Er zog einen Stift aus der Jacke, in einer anderen Tasche fand er eine Serviette mit dem Emblem vom E. Das Adrenalin pumpte weiter durch ihn durch, als er, die Serviette gegen die Wand gedrückt, eine Nachricht aufschrieb. Dann stopfte er sie ins Glas und rannte wieder nach oben, an der Hausparty vorbei. Ein Stockwerk höher bremste er ab. Direkt oben drüber hatte es geheißen. Er stellte das Glas vor die Tür und rannte wieder nach unten. Die Musik hinter der anderen Tür drehte grade wieder auf.
Auf der Straße wartete Mischa und hob fragend die Schultern.
„Was war das denn noch?“
„Nichts Mischa Baby, gar nichts,“ Finn packte seine Schultern und knutschte ihn auf beide Backen.
„Oh fuck — so durch bist du also. Komm du Irrer. Ich höre die Bullen.“
Sie rannten durch die Stadt, unfähig zu sagen wohin. Sie schrien sich immer wieder etwas zu, kommentieren den Abend und alles was passiert war. Völlig verschwitzt kamen sie irgendwann, nach ewig geschlagenen Haken, wieder auf dem Marktplatz an.
„Wieso hast du dir das gefallen lassen vorhin?“ Fragte Finn und stützte sich auf seinen Knien ab.
Mischa keuchte. Er spuckte aus.
„Solche Typen frühstücke ich normalerweise. Kann mir das aber momentan nicht erlauben. Naja, war ne verrückte Nacht. Ich mach mich heim.“
„Ich bleibe noch kurz. Nur kurz sitzen und schauen.“
„Wie du meinst, du Freak.“ Als er fast in der Steingasse verschwunden war, drehte sich Mischa nochmal um.
„Wir treffen uns, ja? Und dann will ich einen Plan hören.“„Was denn für einen Plan?“
„Wie du hier rauskommst.“„Ich muss arbeiten, wie soll ich denn planen?“
„Mach krank.“
„Kann ich nicht.“
„Gott bist du deutsch. Du machst krank und dann überlegen wir was. Mein Köter vermisst dich. Wir gehen spazieren oder so. Dabei kann man gut denken.“„Dein Hund lebt noch?“
„Das ist mein Hund. Der stirbt nicht so schnell. Also?“
„Ja. Ja das machen wir.“
Finn warf sich auf den steinernen Brunnenrand in der Mitte des Marktplatzes. Die Polizei suchte wahrscheinlich nach ihm. Er schaute über den leeren Platz und hoch zum Rathausturm an dem sich langsam das Licht hin zum Morgen wandelte. Er schaute vor sich hin, spürte den eigenen Herzschlag heftig unter den Rippen und fühlte sich sorglos.
Zwischen den Häusern hallte Gesang. Es war unmöglich zu sagen, woher die Stimmen kamen oder was sie sangen. Von links kamen dann die Sänger auf den Platz. Es waren die Blinden aus dem „Schluck“. Sie hielten sich an den Händen und folgten dem Ersten, der als einziger einen Stock hatte und den Weg für alle hinter ihm abtastete. Dabei schlug die Reihe heftig zu den Seiten aus. Sie sangen weiter und Finn erkannte den Song: „Where did all the Love go“, sogar den Chorus hatten sie drauf. Mit einem Mal kam die Prozession durcheinander. Es dauerte einen Augenblick, bis Finn das Geschehen entschlüsselt hatte: der Stock war weg. Es war wohl so, dass die Spitze des Stocks sich im Kopfsteinpflaster verkantet hatte und so dem Vordersten aus der Hand gefedert worden war. Jetzt lag er etwa zwei Meter weiter den Hang runter. Finn wollte aufspringen und den Stock holen — aber die Gruppe hatte sich bereits organisiert: in zweier Teams schwärmten sie Hand in Hand aus, suchten den Boden ab, mehr fallend als laufend und sangen einfach weiter. Es dauerte keine dreißig Sekunden und der Stock war gefunden, die Reihe wieder hergestellt und sie zogen singend vom Marktplatz ab.
Finn schälte sich vom Brunnenrand. Er wollte nur noch ins Bett. Den Weg würde er laufen. Vielleicht bei einem Bäcker frühstücken und den restlichen Tag verschlafen. Dann wartete auch schon die nächste Schicht und die Sache mit Mischa. Und vielleicht würde Maya sogar auf seine Nachricht reagieren.
Finn lief los.