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Erledigt In

Mississippi

Leon Ospald30/01/23 10:391.2K🔥
Bild: Dave Thompson Wing
Bild: Dave Thompson Wing

Die Thermoskanne spuckt Kaffee in Plastikbecher. Eine Gruppe von etwa zehn Personen steht in der Abendsonne um einen weißen Campingtisch. Der Tag ist heiß gewesen. Wie die letzten Wochen. Heiß und trocken wie im August, obwohl der noch zwei Monate entfernt ist. Alles verdorrt in der Sonne und vertrocknet im Wind, der, ohne Wolken oder Regen zu bringen, Staub und Dreck aufwirbelt und allem was lebt, die Flüssigkeit aus den Zellen bläst. Sogar der Fluss verliert Wasser. Er steht niedrig, plätschert brackig stinkend um die Steine der Uferböschung. Jetzt wird es Abend, aber auch der bringt keine Abkühlung. Bloß der Wind lässt etwas nach und hört auf, die Luft vom aufgeheizten Boden in die Gesichter der Menschen um den Campingtisch zu pusten. Immerhin atmen kann man etwas leichter.

Neben dem Tisch, hinter der Gruppe, endet das asphaltierte Ufer. Ein Steg führt von der Uferkante nach unten, steil nach unten, so wenig Wasser führt der Fluss und bringt jeden der will, an Bord des Raddampfers. „Louisiana“, so heißt das Schiff. Keiner der Menschen, die am Ufer stehen und dünnen Kaffee schlürfen, will an Bord gehen. Sie alle müssen und werden die ganze Nacht, wie die Nacht zuvor, immer wieder den Steg hoch — und runterlaufen. Sie warten bloß noch. Sie warten auf den LKW, der kommen wird, damit sie abladen können und sie warten auf die Anweisungen, die mit dem Material ankommen werden und auf die Teamleiter, die mit anpacken werden, zwischendurch, und die darauf achten, dass sich niemand aufs Klo verdrückt oder sich für eine Stunde Schlaf in eine Ecke verzieht.

Der LKW kommt. Und mit ihm verschwindet die idiotische Hoffnung, dass irgendein Wunder, etwas Irres, die Nachtschicht, die zweite in Folge, doch noch abwenden könnte. Der LKW kommt das Ufer entlang, der Fahrer hupt und die Teamleiter grinsen und winken von den Beifahrersitzen.

„Abend Männer!“ Es sind nicht nur Männer in der Gruppe der zehn Menschen um den Campingtisch, aber das ist Olaf, einem der beiden Teamleiter, ganz gleich. Der Fahrer muss noch um parken und dann Formulare ausfüllen und die Ladung entsichern und Jan und Olaf müssen das Gatter zum Steg aufsperren und an Bord des Schiffs gehen und auch dort aufsperren und kontrollieren, was die Schicht tagsüber so geschafft hat und währenddessen schlürfen die Menschen der Gruppe um den Campingtisch weiter Kaffee und genießen die kurze Frist, bis es dann wirklich losgeht.

Julius ist knapp dran. Er strampelt das Ufer entlang. Als er den LKW und die Gruppe dahinter sieht und erkennt, dass sie noch nicht angefangen haben, lässt er das Fahrrad rollen. Er war schnell genug, der Schwung wird ihn bis zum LKW tragen. Er schwitzt und muss, aufgeheizt wie er ist, gleich in die dicken Arbeitsschuhe und in die Kleidung der Firma schlüpfen: schwarze Hose, zum Glück mit abtrennbaren Hosenbeinen, also eine kurze, robuste Hose und ein schwarzes Polohemd mit dem Firmenlogo auf der Brust. Julius winkt der Gruppe zu und lenkt dann das Fahrrad hinter den LKW und zieht sich schnell um.

Sie stehen weiter um den Tisch. Der Fahrer ist auch dazugekommen, genauso wie Julius. Sie warten auf Jan und Olaf. Die Gruppe gelassen, der Fahrer immer nervöser, da sich seine weiteren Liefertermine mit jeder untätigen Minute immer schwerer einhalten lassen.

„Ich lad´ jetzt ab“, sagt er, als nach einer Viertelstunde immer noch keine Anweisungen von der „Louisiana“ ans Ufer gelangt sind. Unschlüssig dreht sich die Gruppe zur Seite, zum LKW, zum Fluss, zur Kaffeekanne, während der Fahrer die Laderampe nach unten lässt.

„Ja kommt, das Zeug muss raus,“ Julius ist unruhig wie der Fahrer. Die zweite Nachtschicht wird eine Tortur — nicht nur körperlich, auch für seine Nerven. Er ist gespannt und könnte platzen, es sticht und wurmt ihn, dass er hier arbeiten muss und die Zeit, dieses Wochenende, nicht da sein kann, wo er sein will.

Sie laden aus: Tische, Stühle, Barhocker, Teile einer Bar, Kabel, Lautsprecher, Lichtstrahler, Zapfanlagen, Kühlschränke, einen Herd, Geschirr, Töpfe, Gasflaschen, Gläser, — alles auf Rollen und eingepackt in kilometerlange Bahnen aus Folie. Sie laden aus. Gewohnt, eingespielt passen die Handgriffe nebeneinander. Am Ufer, gleich neben dem Steg, stapeln und stellen sie alles dicht zusammen.

„Stopp! Stopp!“ Olaf und Jan rennen über den Steg ans Ufer.

„Was macht ihr?“ Sie reißen Arme und Hände mit Klemmbrettern darin in die Luft.

„Hört auf.“ Sie rufen und kommen zum LKW gelaufen.

„Wer hat gesagt, dass ihr abladen sollt?“

„Ich muss weiter,“ der Fahrer schiebt sich durch die Gruppe zu Olaf und Jan nach vorne.

„Wir dachten, das Zeug muss eh raus,“ Julius Anspannung steigt immer weiter. Er spürt die Zeit an sich vorbeiziehen, spürt in jeder Sekunde, hier nicht sein zu wollen und jetzt gehen die Dinge auch noch schief.

„Aber zu früh. Wir müssen erst aufs Schiff. Die Teppiche sind nicht fertig.“

Die Gruppe stöhnt und schaut sich gegenseitig an.

„Aber das sollte doch heute die Schicht tagsüber erledigen,“ Julius Tonfall wird patzig, „was soll das denn? Jetzt müssen wir heute Nacht alles erledigen, oder was?!“„Sieht so aus,“ Olaf stöhnt und kratzt sich am Oberarm.

„Also,“ Jan starrt auf sein Klemmbrett, „dann laden wir jetzt ab, ist jetzt so, stapeln das Zeug hier, einer muss oben bleiben, am besten Olaf oder ich im Wechsel.“ Die Gruppe lacht leise und boshaft, „wir bleiben abwechselnd hier und passen auf das Zeug auf. Ihr macht die Teppiche, dann räumen wir ein, bauen auf, das klappt schon, wir haben zehn Stunden. Also los geht’s, Männer!“

Daria, eine Filmemacherin aus Griechenland, schimpft vor sich hin, während sie gemeinsam wieder zum LKW trotten.

„Ist immer so,“ sagt Julius zu ihr, „ich hatte noch keinen Job, der glatt lief.“

„Von mir aus,“ antwortet Daria, „dann wird´s eben stressig. Ich bin aber kein Mann.“

Sie laden weiter ab. Es wird dunkel. Jan, Olaf und der Fahrer ziehen Kabel vom Boot aus ans Ufer, bauen Stative auf und hängen Leuchtstrahler ein. Als das letzte Tageslicht verschwindet, ist der LKW leer und das Ufer, der Steg und die Ladung leuchten im klinischen weiß der Strahler.

Die Teppiche im Schiff zu verlegen, ist eine elendige Plackerei: das Schiff hat drei Decks und auf jedem stehen Säulen im Raum, oder eine Bühne am Ende, oder Schwingtüren öffnen sich zu zwei Seiten, oder Rohre verlaufen an der Wand und dicht über dem Boden, sodass man ständig gezwungen ist, die dicken roten Teppichstücke zurechtzubiegen und zu schneiden. Sie schwitzen und stöhnen und bekämpfen mit vereinten Kräften die Stapel aus viereckigen Teppichteilen, die auf jedem Deck aufgestapelt stehen. Es kostet sie zwei Stunden, um die Arbeit ihrer Kollegen aus der anderen Schicht zu beenden. An eine Pause ist nicht zu denken, als sie fertig sind und das Schiff einen Boden wie bei einer Film Gala hat. Jan und Olaf warten am Ufer und winken die schwitzende, stöhnende, mies gelaunte Gruppe vom Schiff nach oben zum Campingtisch. Dort stehen Wasser — und Saftflaschen und belegte Brötchen.

„Esst gerade was,“ Olaf klopft auf seinem Klemmbrett herum, „wir sagen euch schon mal, wie es weitergeht.“

Jan erklärt dann, während alle anderen schnell Brötchen stopfen, Wasser kippen und Zigaretten schmachten, dass sie ein weiteres Problem haben: der Bauplan fürs Schiff und die Schiffsgröße passen nicht zueinander. Das Schiff ist in Realität viel kleiner und es wurde daher zu viel Zeug zum Aufbauen geliefert.

„Wir müssen improvisieren,“ beide, Jan und Olaf starren auf ihre Klemmbretter und kratzen sich an Oberarmen, Glatzen und Bäuchen. Daria lacht. Julius lacht auch. Der Rest der Gruppe schweigt.

Improvisieren heißt dann, dass sie selbst entscheiden müssen. Das Schiff muss bestückt werden. Und dafür bleibt nur diese Nacht. Die Teppiche haben schon Zeit gekostet. Jeder weiß, was das bedeutet: sie werden sich den Arsch wegschuften.

„Na dann,“ Daria klatscht in die Hände, „was stehen wir hier rum?!“

Sie legen los. Jan geht aufs Schiff und dirigiert dort und versucht unter Zusammennahme seiner ganzen Kreativität, einen neuen Plan zu improvisieren. Olaf bleibt bei ihrem Materiallager stehen und verteilt und überwacht seine Ameisen, die unermüdlich den Scheiss über den steilen Steg auf die „Louisiana“ verfrachten. Sie schleppen für Stunden. Daria entdeckt um Mitternacht die Musikanlage. Sie dreht auf und dann knallt französischer Rap in seiner ganzen Härte über den Kai und durch das Schiff.

Auf dem Steg rutschen sie immer wieder aus. Einer legt sich und schlägt sich das Knie auf. Julius hat ihn vorher noch nie gesehen. Es ist ein Mann um die Fünfzig. Wortlos humpelt er ans Ufer, wirft Olaf seine Handschuhe vor die Füße und geht. Kurz steht alles still. Für einen Moment liegt eine Möglichkeit in der Luft. Alle schauen auf Olaf. Der kratzt sich am Bauch, hebt dann die Handschuhe auf, schwenkt sie über den Kopf und ruft: „dem Alten ist wohl die Puste ausgegangen. Der ist dann seinen Job auch los.“ Und vom Schiff aus ruft Jan: „Weiter geht’s. Kommt Leute, weiter, weiter.“

Die Ameisen laufen wieder. Julius zieht zwei Hocker von der Palette. Die Hocker sind schwer, mit einem massiven Fuß und einer runden Sitzfläche, dick wie sein Unterarm. In jeder Hand trägt er einen Stuhl, geht vorsichtig, um nicht zu rutschen, auf den Steg und presst sich am Geländer an seinen Kollegen vorbei, die vom Schiff wieder zurückkommen. Kurz bevor er das Schiff erreicht, schreit hinter ihm jemand auf, weitere Stimmen fallen in den Schrei ein, Julius dreht sich, sieht den Herd, das Monstrum aus Stahl, auf Rollen den Steg runter rasen. Der Herd schlägt zu beiden Seiten ans Geländer, bleibt mit einer Ecke an einer Stange hängen, dreht sich um sich selbst und schießt weiter und immer schneller auf Julius zu. Der Steg ist so steil, dass er direkt aufs Schiffsdeck führt. Es gibt keine Bordkante, die den Aufprall abfangen könnte. Julius lässt die Stühle fallen und springt, Sekunden bevor der Herd in der Schiffswand einschlägt, durch die Schwingtür zur Seite weg ins Innere. Der Einschlag hallt im Schiffsrumpf nach. Niemand regt sich. Es ist stockdunkel. Die Musik ist aus, ebenso alle Lichter an Deck und am Kai. Langsam, wie Füße, die sich aus dickem Matsch befreien, löst sich die angehaltene Spannung.

„Was…was…“, Das muss Olaf sein, denkt Julius, der im Dunkeln steht und überrascht der Ruhe seiner Gedanken folgt.

„Was…was…wer…“, Und gleich schreien alle, denkt Julius weiter und fragt sich dann, woher das Glucksen in seinem Bauch und das Schmunzeln in seinen Mundwinkeln kommt. Dann schreien alle durcheinander und rennen über den Steg auf das Schiff. Durch die Bullaugen in der Schwingtür kann Julius Schemen seiner Kollegen erkennen. Taschenlampen flackern auf.

„Das Ding ist durch die Wand durch!“ Das ist Aris Stimme, denkt Julius. Ich mag Ari, denkt er und zählt dann nach, wie viele Schichten er schon mit Ari gemacht hat.

„Dreizehn,“ sagt er leise und langsam in den dunklen Saal hinein.

Was die anderen nicht sehen können, da sie noch vor dem Loch in der Wand stehen, ist, dass der Herd die Wand durchschlagen und bis zur anderen Seite des Schiffs alles abgeräumt hat, was in seinem Weg war.

„Tja, Pressspan,“ sagt Julius, weiter leise und völlig ruhig.

Draußen brüllt Jan plötzlich auf. Er schreit Stopp, Stopp, leuchtet dann auf lose Kabelenden, die aus der Wand hängen. Dann scheuchen Jan und Olaf alle vom Schiff.

„Wo ist jetzt bloß der Sicherungskasten,“ fragt Julius den leeren Saal und dreht sich um. Daria steht vor ihm. Sie schaut Julius ins Gesicht und leuchtet ihn mit der Lampe ihres Smartphones von oben bis unten ab.

„Noch alles dran?“ fragt sie.

„Denke schon,“ antwortet Julius.

„Also ich habe alles,“ sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Gehen wir?“ fragt sie.

„Ja, denke schon,“ antwortet Julius.

Nebeneinander gehen sie den Steg nach oben. Jan und Olaf hängen beide am Telefon und stammeln vor sich hin. Die anderen hängen am Geländer, stopfen Brötchen, schmachten Zigaretten und starren auf das Loch in der Schiffswand.

„Ey, wo wollt ihr hin?“ Olaf brüllt ihnen nach, als Julius und Daria anfangen die Arbeitskleidung auszuziehen. Nur in Unterhose dreht Daria sich um und reckt Olaf den Mittelfinder entgegen.

„Fick dich, Glatze!“ ruft sie und zieht sich dann ihre Klamotten über die Haut.

„Bist Du soweit?“

„Ja, denke schon,“ sagt Julius und denkt, dass er ausnahmsweise zur richtigen Zeit, am richtigen Ort ist.

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