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Erledigt In

Hungrig

Leon Ospald14/03/23 17:16811

Aus dem U — Bahnschacht strömte ein Stoß warmer Luft.

Gleich kommt wieder eine, dachte Markus.

Die U — Bahn kam. Leute stiegen ein. Es stieg kaum jemand aus. Wozu auch. Hier wohnte man bloß und der Feierabendverkehr war längst rum. Ein paar Jungs sprangen noch durch die Türen, als diese sich gerade schlossen. Alle in Markus Alter und alle schon ziemlich betrunken. Markus trank einen Schluck aus seiner Bierflasche und schaute dann wieder auf sein Smartphone. Die Seite war immer noch nicht geladen.

Auf dem Bahnsteig lag eine Zigarettenschachtel. Seit mehreren Minuten schielte er immer wieder zu ihr und gab den Kampf, den er mit sich ausgefochten hatte schließlich verloren. Ein Blick über die Schulter sagte ihm, dass er allein war. Schnell lief er die paar Meter und hob die Schachtel auf. Immerhin drei waren noch drin. Er steckte, zurück auf seiner Bank, auch gleich eine an. Die Seite der Berliner Sparkasse war endlich geladen. Das Jobcenter hatte überwiesen. Kaum dass Markus die Zahl siebenhundertfünfzig las, streckte ihn die Erleichterung auf der Bank lang. Ein Krampf in seinen Muskeln löste sich. Er konnte wieder etwas Luft holen. Sein E-Mail-Postfach war dennoch leer. Mehrmals lud er den Posteingang neu, aber es kam nichts rein. Er überprüfte die gesendeten E- Mails und vergewisserte sich, die Mails, auf die er Antworten erwartete auch wirklich abgeschickt zu haben. Auch wenn er das wusste und die Adressen jeden Abend wieder überprüfte, glaubte er mittlerweile eher an eigene Fehler, als daran, dass die Antworten einfach etwas Zeit brauchten. Die kurze Welle der Erleichterung war schon wieder verebbt. Die Anspannung krabbelte mit Spinnenbeinen seinen Körper hoch. Das Zittern kehrte gleich wieder in seine Hände zurück.

Vor einem Monat war der Internet — Vertrag ausgelaufen. Auch wenn das Jobcenter zahlte, es reichte einfach nicht. Eben gerade so zum Überleben.

„…im Himmel noch donnern helfen,“ der Zitat Fetzen irrte durch Markus´ Kopf. Er hatte damit angefangen, seine Bücher zu verkaufen. Jetzt konnte er nicht mehr nachlesen, woher das Zitat stammte. Mit einer irren Befriedigung hatte er sich selbst über Wochen dabei zugesehen, wie er Buch um Buch, sein altes Leben eingepackt und zur Post getragen hatte — für ein paar Euro Gewinn nach Abzug von Porto und der Kosten für die Umschläge. Die Bücherregale waren leer. Internet konnte er bloß in Cafés oder eben in der U-Bahnhaltestelle nutzen. Zu Hause gab es nichts zu tun. Er hatte sich abgetrennt, völlig isoliert und sich der starren Hoffnung, Antworten auf seine Bewerbungsschreiben zu erhalten, hingegeben. Nur die Hoffnung war geblieben. Auf ihrem Altar hatte er sich geopfert: jung, gesund, gebildet und vollkommen und endgültig verloren.

Markus zog sich von der Bank. Es war Freitagabend und die härteste Aufgabe stand ihm noch bevor: der Wochenendeinkauf.

Vor dem Eingang zum Discounter hämmerte er sich noch die eiserne Regel für den Einkauf ins Gedächtnis: nur das Nötigste. Dann war er drin und zwang seinen Blick, ausschließlich zwischen Einkaufszettel und Regal zu springen. Gleich beim Obst wurde er schwach. Nahm dann aber doch nur einen Sack Äpfel. Und Zitronen. Und eine Grapefruit. Gemüse war einfach, da immer das gleiche: Kartoffeln, Karotten, Paprika, Sellerie und Zucchini. Und Kohlrabi. Und Champignons. Er würde die eiserne Regel brechen. Das war jetzt schon klar. Bei Milch und Joghurt nur das Billigste. Reis und Nudeln und Eier. Brot, Butter, Käse — das waren vier Mahlzeiten für vier Tage. Ein Essen am Tag war zur Normalität geworden. Noch ein Glas Pesto, Tomatenmark, passierte Tomaten und der Einkauf könnte beendet werden. Aber da war die Tiefkühltruhe mit Fisch und dahinter die Regale mit Brotaufstrichen und Oliven und Artischockenherzen und dahinter kamen Schokolade und Kekse und dahinter die Nagelprobe für jeden Einkauf: das Weinregal. Markus knüllte den Einkaufszettel zusammen und griff ins Eisfach nach Lachsfilet und Blattspinat. Sofort weiter zu Oliven und Artischocken und da aus zum Wein. Morgen oder am Montag, da könnte er bereuen. An der Kasse schwitzte er dann doch und war kurz versucht, seine Beute — es fühlte sich an wie ein Raub, den er an sich selbst beging — wieder zurückzubringen. Er zahlte mit Karte und preschte schwitzend durch fiesen Novemberregen zurück zu seiner Wohnung.

Der Aufzug war kaputt, es roch im Treppenhaus nach Pisse und Aschenbecher. Seine Wohnung, das kleine Zimmer, oben, im dreizehnten Stock, war fast leer. In den Regalen waren nur die Abdrücke seiner Bücher als Schattenrisse an den Wänden zurückgeblieben. Von seinen Schallplatten hatte er sich nicht trennen können.

Noch nicht, dachte Markus und spürte einen grellen Blitz schmerzend durch seine Brust schießen, als er eine Platte von Krystian Zimerman auflegte und sich vorstellte, seine komplette Sammlung, seinen Plattenspieler, die Lautsprecher, den Verstärker zu verkaufen. Doch der Blitz verschwand und leer im Herzen schätzte Markus den Verkaufswert auf rund eintausend Euro.

„Meine eiserne Reserve,“ sagte er laut in die kalte und kahle Wohnung. Dann machte er sich daran, sein luxuriöses Gericht aus Linguine, Spinat, Lachs und einer Flasche Wein zu kochen und zu genießen.

Glücklich, satt und schön angesoffen, wollte er sich ins Bett verkriechen, um das Wochenende zu verschlafen, als eine Nachricht auf seinem Smartphone den Frieden zerriss.

Pavel schrieb: „bin unterwegs. Komm. Um zehn im Z.“ Pavel. Satans Diener. Arm und abgerissen wie Markus. Aber Vagabund und sorglos und nie bedrückt, wenn das Geld ihm mal wieder ausging. Und das ging ihm immer aus.

Gleich die nächste Nachricht: „habe zwitschern hören, Isabelle kommt auch.“ Und die nächste Nachricht: „komm. beeindrucke uns am Billardtisch.“ Und noch eine Nachricht: „Ich habe Geld. Lade dich ein.“ Und hinterher: „Das war gelogen. Aber Geld habe ich. Noch.“

Jetzt kam der Stress mit aller Macht. Der Konflikt, den er so gut kannte und den er so sehr hasste. Auf der einen Seite war da Pavel und das „Z“ und die Aussicht, mal allen Scheiss vor der Kneipentür abzustellen und sich zu vergessen und Billard zu zocken und einfach eine Nacht lang zu genießen und völlig normal zu leben wie früher. Und natürlich Isabelle. Und auf der anderen Seite stand die Gewissheit, dass sie mehr ausgeben würden und sicher nicht nur im „Z“ bleiben würden und da war Pavel, der kein Maß kannte und seine teuflischen Ideen und die Lust, diesen Ideen immer nachzugeben und da war der nächste Tag und die Wut auf das Loch in seinem Konto, durch das wieder bloß Alkohol und eben ein wenig Glück geflossen sein würde und da war Isabelle, die wieder bloß an ihm vorbei schweben würde, diese Fee aus der Welt der Eigentumswohnungen im Stadtzentrum, der Sprachreisen und der unzähligen Hobbys und Talente.

Markus schwitzte. Das war neu. Bislang hatte er immer gefroren — auch weil er kaum heizte, um Geld zu sparen. Jetzt kam Schweiß dazu und so ein saures Aufstoßen.

Du hängst drin, sagte sich Markus. Der Körper ist immer auch sichtbares Ergebnis seiner Umstände. Wieder so ein Zitat. Das Jobcenter formt mich, fügte Markus dem Zitat hinzu.

„Ich komme,“ tippte er dann ins Handy.

Um elf stand er vorm „Z“. Er hatte sich umgezogen. Trug sein schwarzes Hemd, hatte sich rasiert und Geld abgehoben. Sogar Zigaretten gekauft und die Gewissheit, diese Nacht mit einem sehr kargen Monat büßen zu müssen, mit einem Ruck vor dem Geldautomaten abgeschüttelt und dort stehen gelassen. Auf dem Weg zur Kneipe hatte er sich leicht, wie seit Wochen nicht mehr gefühlt. Aber jetzt, vor der Kneipentür, kam das Schwitzen wieder. Unter seinen Achseln tropfte es und lief nach unten.

Durch das Fenster schaute Markus in die Kneipe. Da saßen sie. Pavel natürlich in der Mitte. Tätowiert, rauchend, mit offenem Hemd erzählte er mit Händen und Füßen irgendeine Geschichte. Ihn nahm man einfach so. Ein Kanarienvogel und nicht von dieser Welt. Er wurde überall aufgenommen. Auch weil er den Unterschied nicht sah. Markus sag den Unterschied. Johannes, Maria, Lukas, David, Ali, Isabelle, Özlem — sie alle lebten richtig. Nach klaren Vorstellungen. In klaren Strukturen und mit Zielen, die sie verfolgten. Erfolgreich verfolgten. Was sollte er schon erzählen? Dass seine Ideen nicht funktionierten und dass sein Plan nicht aufging? Dass er nachts unter drei Decken lag, um nicht zu frieren? Dass seine Hände zitterten, wenn ein Brief vom Jobcenter im Briefkasten lag oder dass er nächste Woche einen Job auf einer Messe als Nachtwächter hatte? Dass er nicht mehr las? Dass das Stipendium für die Doktorarbeit längst vorbei war? Er hatte nichts, was ihm in dieser Gruppe einen Platz sichern könnte. Mit Pavel zu zweit, wäre es etwas anderes gewesen. Pavel verstand gar nicht, weswegen er sich sorgte. Zu zweit hätte Markus vergessen können. Aber so, vor allen? Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Schon wegen der Schweißflecken unter seinen Achseln. Es war unmöglich zu erzählen und auf Nachfragen mit einem Scherz zu reagieren.

Markus nahm das Handy aus der Tasche und schaltete es aus. Er rauchte eine Zigarette und schaute seinen Freunden weiter dabei zu, wie sie sie sich unterhielten. Vor allem schaute er Isabelle an. Dann drehte er sich um.

Die U-Bahn fuhr nur langsam und blieb auf der Strecke immer wieder stehen. Dann stieg er aus und lief zurück, nach Hause, in den dreizehnten Stock. Das Treppenhaus stank nach Pisse und Aschenbecher. In seiner leeren Wohnung roch es nach dem Abendessen. Er vergrub sich unter drei Decken im Bett.

Doch kaum lag er, sprang er wieder hoch. Plötzlich wach und mit klopfendem Herzen. Markus zog sich wieder an.

Er rannte durch die Wolke aus Pisse und Asche, rannte weiter zur U-Bahn, trommelte während der Fahrt mit den Fingern gegen den Sitz, sprang an der Haltestelle wieder raus und rannte weiter bis zum „Z“.

An der Theke bestellte er ein Bier für sich und eine Runde Wodka für alle am Tisch. Mit dem Tablett balancierte er durch die Kneipe.

„Da bist Du ja!“ Es war Isabelle, die das gesagt hatte.

„Ja, da bin ich.“ Markus knallte die Wodkagläser auf den Tisch. „Wer will beim Billard verlieren?“


Er gewann tatsächlich jedes Spiel und machte Johannes dadurch so wütend, dass der schließlich um fünfzig Euro spielen wollte. Auch dieses Spiel gewann Markus. Und die ganze Zeit, bei jedem Spiel, spürte er Pavels listigen Blick auf sich und sah dessen feines Grinsen, jedes Mal, wenn er zu ihm schaute. Auch Isabelle schaute. Und dann, nachdem Johannes fünfzig Euro verloren hatte und nach Hause war, weil angeblich die Kopfschmerzen wiedergekommen waren, setzte sich Markus zu den anderen und erzählte. Er erzählte und kümmerte sich nicht um den Schweiß, der dabei durch sein Hemd sickerte. Er erzählte, ohne zu dramatisieren, einfach der Reihe nach, das ganze beschissene letzte Jahr. Angefangen bei seinen Eltern, beim Schlaganfall und der Arbeitsunfähigkeit, von seinem Burn — Out während der Doktorarbeit, von seiner letzten Beziehung und er hörte auch dann nicht auf zu erzählen, als Maria und David und Lukas gingen und dann saßen sie da zu fünft mit Pavel, Ali, Özlem und Isabelle und Isabelle stand auf und kam mit mehr Wodka zurück und fing selber an zu erzählen und plötzlich erzählten alle ihre Geschichten. Und die ganze Zeit über grinste Pavel sein feines Grinsen und flunkerte listig in die Runde. Keiner wollte gehen und niemand wollte mehr aufhören zu erzählen.

Irgendwann mussten sie gehen: der Barkeeper wollte schließen. Hackedicht standen sie draußen und es regnete fies.

Und auf einmal, als sie sich umarmt und geküsst und wieder umarmt hatten, fragte Markus: „wollt ihr morgen zu mir zum Essen kommen? Ihr müsstet allerdings Essen mitbringen,“ fügte er kleinlaut hinzu. Als Antwort fielen ihm die anderen wieder um den Hals und sie schafften es noch, sich mit der richtigen Adresse zu einer bestimmten Uhrzeit zu verabreden.

An der U — Bahn sagten sie dann zum letzten Mal tschüss und Markus stieg allein in die Bahn Richtung Randbezirk. Kaum lief er durch Pisse und Asche wieder hoch zu seiner Wohnung, kamen Zweifel und die Frage, wer wirklich kommen würde. Mit aller Kraft zwang er sich den Rausch zu genießen, legte eine Schallplatte auf und fiel ins Bett.

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