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Erledigt In

Ein Traum, ein Kopf

Leon Ospald11/02/23 11:511.2K🔥

Freitag. Fast geschafft. Die Straße war leer. Hier passierte nichts mehr. Längst waren alle Büros geschlossen, alle Konferenzen beendet, nur eine Sitzung dauerte noch und hielt Marian in seinem Auto fest. Die Woche wollte nicht enden. Eine Fahrt noch. Den Wagen auftanken, in die Garage fahren, saugen, waschen, polieren, dann könnte er heim.

Er öffnete die Fahrertür und zog sich aus dem Ledersitz. Es hatte geregnet. Nur leicht, aber der Staub war aus der Luft. Von irgendwoher leuchtete der Mond durch die Wolken. Ohne Jackett spürte Marian den Wind auf der Haut. Bereitwillig öffnete er einen weiteren Hemdknopf. Das half ein wenig, die Enge loszuwerden. Die Härchen auf seiner Brust stellten sich auf, er streckte sich, stützte sich gegen die Motorhaube, spürte die Nässe durch den Hosenstoff dringen. Oben, ganz oben, leuchtete noch eine Etage. Ansonsten war das Haus ein schwarzer Klotz aus Glas.

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Gehen. Den Wagen stehen lassen und gehen. Fünf Tage hatte er gesessen und geschwiegen. Den Mercedes durch die Stadt gesteuert, „Ja“ und „Nein“ und „keine Ursache“ gesagt, jetzt wollte er gehen, bis nach Hause, die Stimmen seiner Kinder hören, sich von seiner Frau erzählen lassen, was er verpasst hatte. Jeden Abend hatte sein Kunde versprochen, es würde nicht lange dauern und jede Nacht war er erst zu Hause gewesen, wenn alle schon geschlafen hatten. Warum sollte es heute

anders sein. Immerhin war es der letzte Tag mit dem Kunden. Der ist schon okay gewesen, resümierte Marian und kramte nach einem Feuerzeug. Arbeitstier halt, dachte er weiter. Ungesund, so hektisch, so blass. Die Zigarette flammte auf. Bestimmt hat der keine Familie. Der hat mir keine einzige Frage gestellt. Die Schulter musste er mir ständig tätscheln. Was solls. Trinkgeld hat er versprochen. Für die langen Arbeitstage. Marian schloss die Augen. Er hörte auf die Stadt, auf Verkehr und Sirenen. Stimmen, die irgendwo miteinander sprachen. Schmeckte den Rauch der Zigarette auf der Zunge, schnupperte die Luft voll Feuchtigkeit und Abfall.

Seit drei Jahren fuhr er Menschen durch eine Stadt, die ihm zu Anfang fremder gewesen war, als seinen Kunden. Wie Glück hatte es sich angefühlt, als er dennoch eingestellt worden war und als die Fahrprüfung bestanden war und der Chef der Chauffeure und des Fuhrparks einen Arbeitsvertrag auf den Tisch gelegt hatte, da war er glücklich gewesen. Langsam hatten die Lippen unter dem Schnauzer das Wort „Unterschrift“ geformt, dazu die Bedeutung des Wortes mit einer Geste ausgeführt und auf die Leerstelle im Schriftstück getippt. Dass Marian neben Polnisch auch Tschechisch, neben Englisch und Französisch auch Deutsch zu dem Zeitpunkt bereits auf B2 Niveau hatte sprechen können, hatte er sich verkniffen zu sagen. Die Personalerin hatte das Wissen wollen. Der Chef hatte von nichts eine Ahnung. Marian hatte gelächelt, genickt und unterschrieben. Einen befristeten Vertrag. Zunächst über drei Jahre. Letzten Monat hatte er verlängert. Wieder für zwei Jahre. Aus dem Glücksgefühl zu Beginn war ein festes Band geworden, dass sich um seine Brust zog, sobald er den Motor der Limousine startete. Der Geruch des Leders, die Unterhaltungen auf den Rücksitzen über Urlaub, Reisen, Party, Jobs, Familie, Perspektive, die immer gleichen Straßen einer immer kleiner werdenden Stadt saugten ihn leer. Seit er wieder unterschrieben hatte, verschwanden Wünsche und Hoffnungen an eine neue Zukunft in den Ritzen zwischen Holz, Leder und Plastik Das Auto saugte ihn auf. Bei jedem Auftrag, bei jeder Fahrt blieb ein Stück von seinem Glauben an etwas Besseres im Auto zurück. Geduld, Du brauchst Geduld. Eine zweite Zigarette flammte auf. Die Lichter in der Etage hoch über ihm brannten weiter.

Es läuft, ihr kommt klar, so versuchte Marian seine Gedanken aufzuhellen. Bis alle die Schule gemacht haben, eine Ausbildung machen, studieren, dann findest Du etwas für dich. Die Regentropfen klatschten dichter und schneller hintereinander auf die Straße und auf die Karosserie. Marian setzte sich zurück ins Auto. Er schloss die Augen. Der Regen knallte seinen Rhythmus aufs Dach.

„Machen Sie auf!“ Der Kunde, Jordan Schmadtke, schlug gegen das Fenster der Fahrertür. Die Verhandlung war zu Ende gebracht. In seinem Sinne gewonnen, könnte man sagen. So fühlte er sich. Als hätte er etwas gewonnen. Von der Tür bis zum Auto war er gerannt.

„Aufmachen. Ich werde klatschnass!“

Marian riss, die Augen auf und entriegelte die Tür. Schmadtke warf seine Tasche und die nasse Anzugsjacke auf die Rückbank und sich selbst daneben.

„Schläft der einfach! Sowas. Ich schlage mich da oben Stunden für Stunden — Sturköpfe, Stirnplatten, dick wie Hauswände, aber ich habe sie gekriegt, und der schläft! Oh, ein Marathon war das. Eine Woche ohne Pause. Ich habe so gut wie nicht geschlafen. Bin auch nicht mehr müde. Weg. Die Müdigkeit ist weg. Jetzt, erst vor einer Stunde konnte ich sie überzeugen. Wahnsinn. Fahren Sie. Weg hier. Los. Fahren Sie.“

Schmadtke lehnte sich zurück. Sein Herz schlug ihm in den Schläfen. Er hatte für zwei arbeiten müssen. Der Kollege, mit dem er die Präsentation halten sollte und auch die Verhandlungen gemeinsam hatte führen sollen, war gestürzt und lag mit gebrochenem Bein flach. Nicht nur das: auch der Zeitplan war am Dienstag angezweifelt worden. Das Missverständnis hatte sich klären lassen, dennoch war das Vertrauen erstmal futsch gewesen. Die Verhandlung unruhig. Zweifel, auch ganz persönliche an ihm, waren geäußert worden. Irgendwie hatte doch alles hingehauen. Aber zu viel Energie, viel zu viel hatte er reinpumpen müssen. Alles hatte so glatt, so einfach ausgesehen. Schmadtke öffnete das Fenster, Sie standen immer noch.

„Wieso fahren wir nicht?“

„Ich weiß nicht wohin.“

„Ins Hotel. Erstmal. Ich muss mich duschen. Kalt duschen.“

Marian startete den Motor. Das „erstmal“ von Schmadtke kreiste ihm im Kopf, während er fuhr. Immer wieder schaute er im Rückspiegel in das Gesicht seines Kunden. Im dunklen Innenraum leuchtete es grell wie eine Maske. Schmadtke sah aus dem Fenster. Gesichter, Satzfetzen, Gesten aus den letzten Tagen zuckten ihm durchs Hirn.

„Stört es Sie, wenn ich rauche?“

Wortlos reichte Marian seine Zigarettenschachtel und das Feuerzeug nach hinten.

„Dachte nicht, dass Sie rauchen.“

Schmadtke grinste seinen Chauffeur über den Spiegel an.

„Manchmal. Wenn mir danach ist. Danke.“

Die Schachtel und das Feuerzeug gingen von Hand zu Hand wieder nach vorne. Marian fingerte sich auch eine heraus. Sie fuhren, rauchten und sprachen nichts. Ihre Blicke trafen sich zwischendurch im Spiegel. Marian kaute auf einer Frage herum und Schmadtke fragte sich, wie dieses Wochenende für ihn ausgehen würde und ob er seinem Chauffeur dabei wirklich trauen konnte.

„Ich bringe sie noch zum Hotel. Danach ist meine Schicht zu ende.“ Endlich war ihm eine Formulierung eingefallen, mit der er dem „erstmal“ von vorhin näherkommen konnte.

„Ich habe mit Ihrem Chef telefoniert. Ich bleibe noch bis Montag.“ Schmadtke hob beide Hände. „Ich brauche einen Chauffeur und ich habe ausdrücklich um Sie gebeten. Natürlich mit Zuschlägen fürs Wochenende.“„Davon weiss ich aber noch nichts.“

„Das müssen Sie abklären. Ich habe schon überwiesen.“

„Bis zum Hotel. Nicht weiter.“ Marian drückte das Gaspedal durch. Der Wagen schoss über die leeren Straßen.

„Ich verstehe.“ Schmadtke zog eine Geldnadel aus der Tasche und blätterte in den Scheinen.

„Gegen den Ärger.“ Mit der flachen Hand patschte er zwei hundert Euro Scheine auf Marians Schulter.

„Nehmen Sie und fahren Sie langsamer. Sie werden gut an mir verdienen. Vorausgesetzt Sie fahren uns nicht gegen einen Baum.“ Schmadtke lachte.

„Mache ich nicht.“ Marian bremste etwas ab. „Hätte auch nicht gedacht, dass Sie lachen können. Die letzten Tage haben Sie nur Ihre Zähne zerbissen. Dachte, der Stock sitzt richtig tief bei Ihnen.“

Schmadtke lachte lauter und tätschelte Marian die Schulter.

„Wenn mir danach ist, lache ich schon manchmal. Fahren Sie mal zum Hotel. Dann lade ich Sie auf ein Bier ein oder was immer Sie wollen und wir sprechen mit Ihrem Chef.“

Eine halbe Stunde später saß Marian in einer leeren Hotelbar, trank einen Cocktail, den er nur bestellt hatte, weil es der teuerste auf der Karte war und wartete auf Schmadtke. Es passte ihm nicht, so bestellt zu werden. Am Abend vorher spontan fürs ganze Wochenende. Die zwei Scheine steckten eng gefaltet in seiner Tasche und drückten durch den Stoff der Hose. Nur wenn noch mehr rumkommt, dann mach Ichs. Weshalb sollte ich den nicht ein bisschen ausnehmen? Wenn der so mit Scheinen um sich wirft. Vielleicht reicht es für die Schulung, vielleicht mit Zertifikat. Marian rechnete. Wieviel mussten ihm die zwei Tage einbringen, damit er sich darauf einlassen konnte. Welche Ausgaben für seine Familie standen an, war der Abschluss seiner Frau wichtiger als die Klassenfahrt seines Sohnes und durfte er sich die Behandlung durch diesen Schmadtke überhaupt gefallen lassen?

Während Marian grübelte, zog Schmadtke vier Stockwerke höher die Zimmertür hinter sich zu. Er hatte geduscht, kalt, eiskalt, sich rasiert, einen frischen Anzug angezogen und einen kleinen Wodka getrunken. Langsam löste sich der Druck aus seinen Schultern. Auf dem leeren Flur schüttelte er sich. So viel Anspannung — ihm war danach zu schreien. Laut. So lange bis er sich selbst wieder in sich spüren konnte. Schmadtke versuchte es: ein kurzes Grunzen kam aus ihm heraus. Gleich schlug er die Hand vor den Mund. Im Aufzug versuchte er es wieder. Es klappte besser. Das Grunzen wurde lauter. Mit mehr Luft beinahe ein Schrei. Er hielt seine Hände fest ineinander verkrampft, um sich nicht wieder den Mund zuzuhalten, holte tief Luft und schrie — der Aufzug hielt, die Tür öffnete sich zur Lobby. Also weiter, dachte er und trat schreiend aus dem Aufzug.

„Abend zusammen,“ brüllte er den Angestellten und Gästen entgegen, „mir geht’s spitze, richtig top, ich geh saufen, mit meinem Chauffeur. Schöne Nacht, ihr Flaschen.“

In der Tür zur Bar hielt er an. Der Raum war leer. An der Bar saß Marian. Irgendwo lief der Kellner herum und verteilte Kerzen auf den Tischen. Marian bewegte sich nicht. Er hatte Schmadtke erkannt. Die Stimme, die in der Lobby geschrien hatte. Jetzt stand der in der Tür und starrte. Marian nagte an den Früchten aus seinem Glas.

„So ists besser.“ Schmadtke hüpfte auf einen Hocker neben Marian. „Schon leer? Noch einen?“

„Was ist mit dem Wochenende?“

„Rufen Sie an. Der Chef wird’s schon klären.“

Am Handy: Marian. Die Stimme am anderen Ende schnell da. Vielleicht den Anruf erwartet. Sonderwunsch, wichtiger Kunde, wichtiger Kontakt, neue Kundenkreise erschließen, Netzwerke sind alles, Investition, keine Zuschläge möglich.

„Dann mach Ichs nicht.“ Marian wollte auflegen, aber Schmadtke fischte ihm das Telefon aus der Hand.

„Schmadtke hier. Richtig. Ihr Zugang zu neuen Sphären. Jaja genau. Also aufpassen: Ich will Marian. Bis Montag. Ich komme regelmäßig in die Stadt. Fahrdienste gibt es viele. Ihre Entscheidung. Nur wenn er Zuschläge bekommt. 25% plus einen Nachtzuschlag. Nochmal 30%. Ja? Wunderbar. Und Dienstag und Mittwoch bekommt er frei. Prima. Ich überprüfe das. Verlassen Sie sich drauf, Ja. Dann. Tschüssikowski.“ Das Telefon lag wieder auf dem Tisch.

„Und? Darf ich noch zwei bestellen?“ Marian nickte, „Dann sind Sie einverstanden? Sie fahren mich?“ Marian nickte. „Hand drauf.“ Marian schlug ein. Er hatte bereits telefoniert. Die Situation geschildert. Er könnte zwei Tage zu Hause bleiben. Sie könnten gemeinsam aufs Amt und er könnte zur Schule fahren und den Alltag miterleben, mal für alle kochen, Aufgaben abnehmen und Entscheidungen mittragen und Geld wäre da. Einmal etwas mehr als nötig.

„Marian. Ich heiße Marian. Ich hätte gerne einen Whisky.“

„Sollst Du haben. Jordan, ich heiße Jordan. Kein dj wie bei den Amis. Jordan. Marian. Wunderbar. Ich hätte auch gerne einen Whisky. Und eine Zigarette von dir.“

„Jordan. Wie der Fluss?“

„Ja.“

„Haben deine Eltern dich nicht gewollt?“

„Hätte ich mal fragen sollen. Sie sind früh…über den Jordan.“

„Kamen sie aus der Region?“

„Mein Vater war als Ingenieur häufig in Jordanien. Hat an Plänen zur Wasserversorgung gearbeitet. Frag mich nicht. In der Zeit wurde ich wohl gezeugt. Mit einer Portion Pathos bin ich dann Jordan geworden. Nicht mal als Embryo hast Du deine Freiheiten. Sobald die entschieden hatten, die Verhütung mal wegzulassen, oder sie habens vergessen, oder waren besoffen und schon geht’s los und du wirst bestimmt. Weiß ich, welche Auswirkungen besoffene Spermien auf mein Leben haben? Nein, weiß man nicht. Ob man bei Trinkern landet, bei Reichen, ob Du als Palästinenser, als Israeli rauskommst — keine Wahl. Wenn Du es richtig scheisse erwischst, bist du Kind in einer Sektenfamilie. Stell dir das mal vor, deine Kumpels gehen bolzen und du musst von Tür zu Tür und Bibeln verteilen. Dann die Pubertät! Stromschläge für jedes Verlangen.“ Jordan schüttelte sich. „Trinken wir noch einen?“ Schon winkte er dem Kellner. Marian hatte lediglich genippt.

„Du hast es anscheinend nicht schlecht erwischt. Unfrei wie Du bist.“

„Schlecht nicht. Bin dennoch nicht mehr als eine Anordnung von Zufällen, von Umständen, eine Hülle. Lassen wir das. Nur eine anstrengende Woche. Wir trinken aus und dann fährst Du mich. Nach Rostow. Da ist morgen Familienfeier.“ Ohne abzubrechen, erzählte er irgendwo in die Richtung von Theke, Aschenbecher und Marians Bauch. Seine Kinder gingen in London zur Schule, seine Frau arbeitete in München und London und er in Berlin und London. Er erzählte, dass ihm alle fremd geworden seien, dass er nicht mehr wisse, weshalb er seinen Job weiter mache, dass ihm manchmal so Gedanken kämen, so Gedanken eben. Plötzlich sprang er auf, schlug Marian auf die Schulter.

„Auf nach Rostow. Die Pferde gesattelt.“ Er lief sofort aus der Bar.

„Fünf Minuten, dann bin ich am Auto,“ schrie er quer durch die Lobby und verschwand im Aufzug.

Im Auto. Vor dem Hoteleingang. Sie fuhren los. Der Mercedes rollte leise. Die Straßen waren leer. Jordans Kopf kippte nach hinten. Im Rückspiegel konnte Marian den Kehlkopf erkennen, der weiß, wie ausgestanzt, aus dem Hals seines Kunden ragte. Je länger sie fuhren, desto häufiger blickte Marian in den Spiegel. Er bremste ab und lenkte den Wagen auf einen Wiesenstreifen neben der Landstraße. Er drehte den Schlüssel, der Motor erstarb. Marian stieg aus. Er ging um das Auto herum zum Kofferraum. Durch das Heckfenster sah er Jordans Kopf: unbewegt, in der gleichen Position, in der er eingeschlafen war. Das Schloss schnappte auf. Da lagen die Koffer. Seine Hände langten nach den Reißverschlüssen. Er sah Hemden, einen ledernen Kulturbeutel, Medikamente, Schlafmittel und Beta — Blocker, eine Zigarre, Lederschuhe, den Roman „Papillon“ von Henri Charrière. Marian klappte den Koffer zu und öffnete den zweiten. Zunächst verstand er nicht, was er sah. Es musste ein Kostüm sein. Eng gefaltet lagen zwei lange Jacken, gemustert, aus Seide, Hosen aus Seide, dünne weiße Strümpfe, Lederschuhe mit Broschen und Absätzen, ein Mantel, gesteppt ebenfalls aus Seide und eine weiße Perücke mit eng gewickelten Locken im Koffer. Marian befühlte den Stoff, entdeckte ein Schminkdöschen und unter den Kleidern ein weiteres Kästchen. Der Verschluss war fein gearbeitet. Elfenbein und Perlmutt waren in Form einer Rosenblüte in den Deckel eingearbeitet. Marian öffnete den Verschluss. Auf violettem Samt lagen zwei Steinschlosspistolen. Gravuren zogen sich vom Griff her über den Lauf der beiden Waffen. Rosenblüten waren in die Griffe eingearbeitet. Vielleicht ein Geschenk, dachte Marian, vielleicht ein Gag, das mit der ganzen Kostümierung. Er klappte den Deckel zu und steckte das Kästchen wieder zwischen die Kleider. Ein leiser Geruch von Öl und Funken, die auf Metall verglüht waren, blieb auch dann zurück, als Marian den Kofferraum wieder geschlossen hatte. Er ging ums Auto herum, öffnete und schloss leise die Tür und startete den Motor.

Er fingerte eine Zigarette aus der Schachtel. Langsam, dachte er und nahm den Fuß etwas vom Gaspedal. Es konnte eine Unmenge an Gründen für das Kostüm und die Pistolen im Kofferraum geben. Dennoch, obwohl er glauben wollte bloß nervös zu sein, weil er die Koffer geöffnet hatte, war ihm ein Geheimnis, etwas Verborgenes vielleicht sogar Verbotenes entgegengeschlagen. Beim Blick in den Spiegel zuckte er wieder zusammen. Jordan war wach und schaute ihn über den Spiegel an.

„Die Straße ist wichtiger als ich“, sagte er ohne Müdigkeit in der Stimme, „halt mal an.“

Marian fuhr am Straßenrand wieder ein Stück auf eine Wiese und hielt.

„Lass den Motor laufen,“ Jordan stieg aus und ging zum Kofferraum. Das Schloss am Kofferraum klickte. Jordan stieg wieder ein.

„Nüchtern will man nicht reisen,“ er wedelte mit einer Wodkaflasche. „Fahr weiter. Ich bin versorgt.“

Sie fuhren. Jordan trank in kleinen Schlucken, rauchte Marians Zigaretten und wandte den Blick nicht von dessen Gesicht im Spiegel ab.

„Noch etwa zehn Kilometer. Ich sage dir Bescheid. Die Ausfahrt ist leicht zu übersehen.“

Es regnete wieder leicht, als sie in ein Waldstück abbogen. Die Straße war längst nicht mehr geteert. Kies und Sand knirschten unter den Reifen.

„Gleich siehst Du es.“ Jordan lehnte sich nach vorne und stützte sich auf die Lehne des Fahrersitzes. Er lachte und sog an einer Zigarette.

Er ist aufgeregt, dachte Marian. Dann verließen sie den Wald und das Schloss tauchte vor ihnen auf.

Vom Wald aus zog sich der Weg in zwei langen Kurven einen Hang bis zu einem See und dem Schloss an seinem Ufer hinab. Zwischen zwei wuchtigen Türmen verschwand die Zufahrt wie in einem Tunnel. Vor der Mauer waren Leuchtstrahler aufgestellt. Die Steine glänzten nass in den Lichtkegeln. Hinter den Türmen und der Mauer stand dunkel als Schatten im Schwarz der Nacht, das eigentliche Schloss. Ein Gutshaus mit Turm.

Marian ließ den Wagen mehr rollen, als dass er fuhr. Er wollte nicht durch das Tor fahren.

„Soll ich im Regen laufen, oder wieso hältst Du an?“

Zur Antwort bog Marian auf die Zufahrt zum Schlosstor ab. Fackeln leckten im Torbogen nach den nackten Steinwänden. Sie hinterließen Spuren von Ruß und qualmten stark wegen der Nässe, die durch das Gemäuer eindrang.

Marian hielt den Mercedes in der Mitte des Platzes hinter dem Tor neben einem Brunnen. Überall erleuchteten Fackeln und Leuchtstrahler Gemäuer, Ställe, Gärten und das Haupthaus mit spitzen Giebeln und zahlreichen Erkern. Er stieg aus. Es nieselte, aber die Juni Nacht war warm und frisch. Es roch nach Gras und Rosen. Während er zum Kofferraum ging um das Gepäck seines Kunden herauszuholen, sah er sich um.

„Da kommt unser Empfang.“ Jordan zeigte auf das Haupthaus. Plötzlich trug er eine rote Maske, die sein Gesicht vom Haaransatz bis zum Mund bedeckte.

Die Tür vom Haupthaus stand offen und eine Frau mit einem Tablet und zwei Gläsern darauf kam auf sie zu. Ein aufwendiges Kleid lag eng um ihren Körper, ließ dabei Hals und Schultern frei. Bei jedem Schritt schlug ihr der Stoff um die Beine. Ihre Haut glänzte im Nieselregen. Das Kostüm in Jordans Koffer und das der Frau passten zueinander. Sie trug eine Maske wie Jordan.

Jordan nahm zwei Gläser vom Tablett. Er zögerte kurz, reichte dann ein Glas mit seiner linken Hand an Marian weiter.

„Willkommen auf Schloss Rostow. Ich bin Alexandra.“ Sie Frau lächelte. Über ihrer Lippe leuchtete ein Leberfleck.

„Willkommen mein Freund. Auf dich und auf die Tage, die vor uns liegen!“ Sie stießen an. Beide, Jordan und Alexandra, zeigten ihm, das Glas leer zu trinken. Sie drängten sich näher und schauten ihn an.

„Was ist mit euch?“ Marians Zunge konnte die Worte nicht formen. Der Boden bewegte sich, die beiden Gestalten verschwammen, sie fingen ihn auf und legten ihn auf den Boden.

Als erstes spürte Marian, dass er nackt war. Er lag auf einer Matratze. Es roch wie in einem Keller. Dann hörte er Schritte. Kurze, schnelle Schritte, die hinter ihm die gleiche Strecke auf und ab gingen.

„Bist Du wach?“ Jordan fiel vor ihm auf die Knie. „Wie geht es dir?“

Er trug das Kostüm aus dem Koffer. Die hellgrüne Seide leuchtete. Die Absätze seiner Schuhe klackten auf den Steinplatten. Mit Jordans Hilfe richtete sich Marian auf. Er war tatsächlich völlig nackt, aber er schämte sich kein bisschen. Bis auf ein leichtes Schwindelgefühl und einen dumpfen Druck hinter den Augen fühlte er sich gut, sogar ausgeruht und hungrig.

„Mir geht es gut. Wo bin ich? Ich habe Hunger. Wieso bin ich nackt? Und wieso habt ihr mich ausgeknockt? Was war das denn, was ihr mir gegeben habt?“

Jordan lachte und schlug ihm auf die Schenkel.

„Ich wusste, dass ich bei dir richtig bin.“ Seine Augen glänzten, als müsste er Tränen zurückhalten. „Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass Du hier bist und dass Du Hunger hast. Du wirst Essen bekommen. So viel Du willst. Und Antworten. Und Kleidung. Was immer Du willst, wird in den nächsten Tagen dir gehören.“

„Wieso bin ich nackt?“ Marian spürte ein seltsames Lachen im Hals feststecken. Jordan sprang wieder auf die Füße und lief, jetzt mit großen Schritten und wehendem Rock im Keller oder Kerker auf und ab.

„Hier bin ich nicht Jordan Schmadtke. Diesen Namen musst Du vergessen. Hier nenne ich mich: Hippolyt.“

„Du nennst dich?“

„Alle nennen sich, wie sie möchten.“

„Und das wars? Ihr zieht euch was anderes an und mehr nicht? Dafür muss man doch niemanden betäuben.“

„Es gibt einige Regeln. Die „Anwärter“ werden nun mal eingesperrt.“

„Also bin ich eingesperrt?“

Jordan rüttelte an der Kellertür. Sie war verschlossen.

Marian lachte. Endlich kam das Lachen aus seiner Kehle. Jordan ließ ihn nicht aus den Augen.

„Was noch? Was muss ich noch wissen?“

„Komm. Ich glaube, du brauchst was zu Essen.“

Jordan schloss die Tür auf. Aus seiner Tasche nahm er zwei Masken. Er setzte sich selbst eine auf und reichte die andere an Marian weiter. Die Maske war aus rotem Leder und bedeckte vom Haaransatz bis über die Nase fast das gesamte Gesicht. Sie liefen durch den Kellergang.

Marian kicherte immer noch. Auf dem Weg durch das Schloss begegnete ihnen niemand.

„Die Leute würden mich nackt eher erkennen als ohne Maske.“ Jordan lachte nicht. Er sah sich immer wieder um und ließ Marians Arm nicht los. „Gleich.“ Sagte er bloß. Und dann: „Du wirst alles verstehen.“

In einem kleinen Zimmer bekam Marian etwas zum Anziehen. Als er sich angezogen hatte, trug er Schuhe mit Absätzen, kniehohe Strümpfe, dunkelrote fast schwarze Hosen, ein weites Hemd, eine rote Weste und einen langen Mantel mit einem Stehkragen. Jordan hatte, kaum waren sie im Zimmer gewesen, ununterbrochen gesprochen. Er hatte sich entschuldigt und immer wieder gefragt, wie Marian sich fühlen würde. Das ganze Prozedere mit Betäubung und Kerker, dass wäre ihm unendlich peinlich, aber er sei gezwungen, sich daran zu halten. Marian nickte und lächelte. Er wusste, dass er immer noch halb mit einer Droge im Blut unterwegs war. Aber dennoch: irgendwie war das alles ein Spiel.

Jordan war aufgeregt. Er redete und redete. Gemeinsam suchten sie nach Namen und nach einer Geschichte, mit der Marian sich den anderen vorstellen könnte. Dann erzählte er die Geschichte zu seinem Namen. Jordan war ein Fürst im Exil. Auf der Flucht vor seinem Bruder, mit dem er sich um die Erbschaft, um den Besitz der Familie, um Ländereien und ein Schloss gestritten und verloren hatte. Der Bruder wollte ihn aus dem Weg räumen und Jordan war geflohen. Jetzt suchte er nach Unterstützern. Nach Freunden, die ihm dabei helfen würden, seinen Anspruch auf das Erbe durchzusetzen.

Marian hatte wieder lachen müssen, als er die Geschichte gehört hatte. Er wollte endlich etwas Essen. Und er wollte sehen, von was Jordan die ganze Zeit sprach. Aber Jordan hatte noch eine Botschaft. Er packte Marian und hielt ihn fest.

„Du bist Anwärter. So nennen wir diejenigen, die für ein paar Tage hier sind. Du wirst dann eine Entscheidung treffen. Du kannst Teil hiervon werden, oder fahren. Du kannst jederzeit fahren. Du bist hier nicht gefangen. Merke dir das. Und es gibt noch einen Grund: Du bist hier, weil ich dich brauche. Du wirst alles verstehen! Komm jetzt.“ Mit einer Verbeugung öffnete Jordan die Tür.

Hinter Jordan betrat Marian einen langen Raum. Fackeln und Kerzen gaben Licht. Ein Tisch war in der Mitte aufgestellt und am Tisch saßen an die zwanzig Personen. Alle trugen Masken und alle waren in irgendeiner Form kostümiert. Jordan stampfte mit den Absätzen seiner Schuhe mehrfach auf das Parkett.

„Wir haben einen Gast!“ rief er, nachdem jede Maske sich zu ihm gewendet hatte.

„Lukasz ist mein Gast. Ich habe ihn eingeladen, die nächsten Tage mit uns hier zu verbringen.“

„Willkommen Fremder,“ riefen die Masken „Sei unser Gast und genieße deine Zeit.“„Wer bist Du?“ Rief eine Frau, die in grünen und braunen Farben, einer grünen Maske und Federn im Haar in der Mitte des Tisches saß.

„Mein Name ist Lukasz. Nichts weiter. Bloß Lukasz. Und wer bist Du?“

„Ich? Artemis!“ Die Frau schlug gegen Federn in ihren Haaren.

„Götter gibt’s hier auch?“ Marian schaute sich um. „Wieso hat mir das keiner gesagt? Dann wäre ich Zeus geworden.“

„Genug gespottet!“ Ein Mann mit Bauch und Trinkerbacken schlug auf den Tisch. „Wer bist du Lukasz und was willst du hier?“

„Ich bin vogelfrei. Man hat mir einen Diebstahl angehängt, den ich nicht begangen habe. Also bin ich abgehauen. Aber man jagt mich, das weiß ich. Wenn sie mich kriegen, kann ich nicht sagen, was sie tun werden.“„Suchst Du Schutz?“

„Eine Pause. Für ein paar Tage.“

„Setz dich. Trink. Iss. Ruh dich aus. Hier wird dir nichts geschehen.“

Marian aß und trank so viel er konnte. Noch immer konnte er das Lachen in seinem Hals spüren. Der ganze Zirkus war nicht ernst zu nehmen: er sprach mit Artemis, mit Barbarossa, mit Fürsten, Priestern, Entdeckern — und erzählte seine eigene Geschichte immer ausführlicher. Immer neues Essen wurde gebracht und selbst die Servicekräfte hatten ihre Geschichte, ihr Abenteuer, dem sie, verborgen hinter Masken, auf dem Schloss hinterherliefen.

„Wie viele seid ihr denn so?“ Fragte Marian einen Priester, der von der Inquisition wegen satanischer Praktiken gesucht wurde und an einem Buch zur Überwindung Gottes arbeitete.

„Erst ohne Gott können wir Glauben erfahren,“ hatte er seine Vision erklärt.

„Das weiss niemand so genau,“ antwortete er jetzt auf Marians Frage. „Mal sind wir eine gemütliche Runde wie dieses Wochenende, manchmal dreimal so viele.“

„Lukasz, Lukasz,“ Jordan patschte Marian auf die Schulter.

„Lukasz — das bin ja ich!“ Marian lachte. Sofort herrschte Stille. Jedes Gespräch war gestorben und alle Masken starrten auf Marian.

„Komm, Vogelfreier,“ Jordan riss ihn am Arm nach oben und schob und schubste ihn aus dem Raum. Langsam murmelnd fanden hinter ihnen die anderen Figuren wieder zum Essen zurück.

„Mach das nie wieder!“ Jordans Augen glühten hinter den Schlitzen seiner Maske. „Du bist Lukasz. Auf der Flucht. Sonst nichts.“

„Aber Jordan…“

„Nenn mich nicht so.“ Jordans Hand lag auf Marians Brust. Er schrie nicht, ballte auch nicht die Faust.

„Ja? Lukasz? Gut.“ Jetzt streichelte er das rote Leder von Marians Maske. „Gut. Lukasz. Komm. Ich will dir das Schloss zeigen.“ Seine Stimme war wieder leicht und etwas angesoffen. „Das passiert allen am Anfang.“ Sagte er und stieß eine Flügeltür auf. Sie gingen an der großen Treppe in der Eingangshalle vorbei und über eine steinerne Wendeltreppe in den Keller.

„Ich zeige dir das Herz von dem allen.“ Das Herz waren Gewölbekeller mit Küchen, einer Bäckerei, einem Schlachter und einem Weinkeller. Überall kochten und brieten Männer und Frauen auf offenen Feuerstellen und schwitzten vor Steinöfen. Marian zeigte auf ein modernes Belüftungssystem und auf mehrere Kühlschränke

„Das ist historisch aber nicht ganz korrekt.“ Jordan legte ihm seine Hand auf die Schulter.

„Es geht darum, was Du sehen willst und nicht, was Du siehst,“ Flüsterte er ihm ins Ohr.

„Ich sehe viele alte Männer hier arbeiten,“ flüsterte Marian zurück.

„Ja,“ sagte Jordan, dicht an Marians Ohr, „Ja, sie sind immer hier. Sie waren auch schon immer hier. Mit ihnen hat alles angefangen.“

Auf dem Weg zu „offiziellen Teil“, wie Jordan es nannte, erzählte er, weiterhin flüsternd und mit Unterbrechungen, sobald ihnen jemand begegnete, dass zwei der Köche pensionierte Multimillionäre seien. Angeblich hatten sie ihre Unternehmen geerbt und nie eine eigene Entscheidung treffen können, sondern waren gezwungen gewesen, die Familienunternehmen weiterzuführen. Jetzt erfüllten sie sich ihren Lebenstraum, den sie nie hatten leben können, als Köche. Aber das sei bloß ein weiteres Gerücht. Wieder stieß Jordan eine Tür auf und sie platzten in einen Raum, in dem Marian viele Masken und Kostüme vom Essen her wiedererkannte. Als sie eintraten, sahen sie nur die Rücken der Menge. Auf einem Podest stand der Mann mit dem Trinker Gesicht, der früher am Abend Marians Spott nicht ertragen hatte. Er trug einen goldenen Mantel und eine goldene Maske. Er musste schon länger gesprochen haben. Sein Kopf glühte und Schweiß tropfte unter seiner Maske hervor.

„…wir sind hier um zu leben. So wie wir gewählt haben zu leben- Vergesst jetzt, wer ihr wart, vergesst, wer ihr außerhalb dieser Mauer sein müsst. Wählt dieses Leben, lebt dieses Leben, kostet dieses Leben bis zum letzten Tropfen!“ Die letzten Sätze hatte der ganze Saal gesprochen, gebrüllt und sich dabei die Masken vom Gesicht gerissen. Jordan war verschwunden und Marian wurde von einer tanzenden Meute mitgerissen. Plötzlich spielte auf dem Podium eine Band, Masken lagen im ganzen Saal verstreut, ständig umarmten und küssten sich die Feiernden. Wein, Bier, alles Mögliche, kam auf Tablets in den Raum. Die Servicekräfte, die Köche, die Bäckermeister, alle waren jetzt da und feierten.

Die Nacht wurde lang. Marian wurde herumgereicht wie eine Trophäe. Jeder wollte ihn sehen, seine Geschichte hören und sich selbst vorstellen. Ständig musste er trinken, wurde auf die Tanzfläche gezerrt, küsste und umarmte Männer und Frauen. Eine wilde, glückliche Energie fraß sich durch seinen Körper. Aus jedem Gesicht leuchteten Funken, gierig nach Leben, hungrig nach mehr, nach immer mehr der glühenden Augenblicke, die sie gemeinsam ertanzten.

Stunden später lag er halbnackt auf einer Liege, die Hände tief unter Artemis´ Rock vergaben, den Mund in ihren Hals verbissen, als Jordan sich neben ihn warf, lachte, ihm auf die Schulter schlug und schrie: „wie fühlst Du dich?“

Artemis lachte über ihnen, küsste erst Jordan, dann Marian.

„Ich glaube, es wird Zeit, oder?“

Zu zweit zerrten sie ihn von der Liege und schubsten ihn in die Mitte des Saals. Artemis stand auf dem Podium.

„Lukasz ist hier. Zum ersten Mal.“ Jubel raste durch die Menge. „Wir alle waren Anwärter, wir alle waren verwirrt und mussten eine Entscheidung treffen. Ich habe ihn gekostet,“ die Menge brüllte vor Lachen, „er passt phantastisch zu uns! Helfen wir ihm ein wenig durch die nächsten Tage und hören dann seine Entscheidung. Willkommen Lukasz!“

Die Feier ging weiter und überschlug sich Stunde um Stunde.

Nebel lag im Hof. Marian schlich aus dem Haupthaus. Er wollte nicht gesehen werden und sprang gleich in die Schatten hinter der Außenbeleuchtung. Schnell, leise und barfuß lief er über den Schlosshof zu der großen Scheune an der Außen Mauer. Er schob den Riegel zurück und schlüpfte durchs Tor. Mit einer kleinen Taschenlampe machte er sich Licht. Es war, wie er gedacht hatte: hier, in der Scheune waren die Autos geparkt. Im Lichtkegel sah er Jaguar, Mercedes, Maybach, BMW, einen Rolls-Royce, Ferrari und einen alten Alfa Romeo. Alles Limousinen, keine Kleinwagen. Marian hatte gesehen, was er sehen sollte: seine eigene Limousine stand ganz vorne, nah am Tor. Sie waren wohl als Letzte angekommen und kein anderes Auto versperrte die Ausfahrt zum Tor.

Der nächste Tag war vom Frühstück an ein einziger Trip: gleich morgens stritten der Kellermeister und der Priester, der sich vor der Inquisition verstecken musste. Kurz darauf brach ein Kellner zusammen und verkündete, letzte Nacht sei ein bestimmter Brief angekommen. Alexandra, eine Fürstin und diejenige, die ihn empfangen und betäubt hatte, zerrte Marian am Arm vom Frühstückstisch weg.

„Nichts für uns heute morgen. Mir dröhnt noch der Kopf, da kann ich so eine Schreierei nicht ab. Ich zeige dir mehr vom Schloss.“ Überall liefen jetzt Leute, Figuren herum. Es war, als liefen sie von Szene zu Szene. Ständig flog irgendwo eine Tür auf, Menschengruppen liefen diskutierend durch die Gänge, stritten, heulten, lachten, in allen Ecken der Räume und für jeden sichtbar. Alle hatten etwas vor, keiner war Zuschauer.

Marian hatte seine Fürstin irgendwann verloren und streunte alleine umher. Eine Weile folgte er zwei Mönchen, die den Kellermeister suchten, um ihm sein Brauereigeheimnis aus den Rippen zu leiern. Dann schloss er sich einer Händlerin an, die ihn bat, ihr als Zeuge beizustehen, da sie um ihre Lizenz streiten musste, um auf dem Schloss weiter Schmuck verkaufen zu dürfen. So ging es den ganzen Tag. Von Jordan fehlte jede Spur. Und irgendwann verstand Marian: jede Figur hatte zwar von Anfang an eine Geschichte, die Geschichten entwickelten sich aber hier auf dem Schloss weiter. Völlig unvorhersehbar und unplanbar veränderten alle Figuren durch eigene Handlungen die Geschichten der anderen und die eigene. Sie verbanden sich oder wurden auseinandergerissen. Er war bereits Teil des Kosmos: er musste im Streit um die Lizenz der Händlerin bestätigen, dass der Verwalter des Schlosses ihr erlaubt hatte, weiter verkaufen zu dürfen, der Kellermeister bat ihn, sich in seinem Zimmer vor den Mönchen zu verstecken, woraufhin Marian mit ihm durchs Schloss geschlichen und gesprintet war, nur um doch von den Mönchen erwischt zu werden. Der Streit wurde heftig und Marian hatte sich zwei Feinde gemacht. Und dann war da noch Artemis, die immer wieder auftauchte, ihren Arm bei Marian einhakte, ihn fragte, wie es ihm ginge, ob er etwas brauchte und ihn jedes Mal, wenn sie wieder neben ihm stand, mit einer neuen Figur in Kontakt brachte. Einmal tauchte sie auf, als Marian sich einer Gruppe vorstellen wollte, in der alle lange schwarze Mäntel und auch weiterhin ihre Masken trugen. Artemis packte seinen Arm und drängte ihn in eine andere Richtung. Es war alles ein Spiel. Er spielte seine Rolle: Lukasz, den Dieb, der keiner war. Zu Artemis sagte er, dass er glaubte einen der Männer trotz Maske erkannt zu haben und dass er der Meinung war, sie seien wegen ihm hier und wollten ihn festnehmen. Sie belohnte ihn für das Spielangebot mit einem Lächeln und zerrte ihn nur um so energischer von der Gruppe weg.

„Was wolltest Du dann von ihnen, Du Idiot?“

„Sie zur Rede stellen.“

„Bist Du übergeschnappt?“ Sie spielte gut. Die Angst vor der Gruppe machte ihr Gesicht starr und ließ ihre Stimme scheppern.

Mittags las der Priester ein Kapitel aus seiner Streitschrift gegen Gott im Schlosshof vor, der Schlossverwalter verkündete eine Anklage und die Strafe für einen Diebstahl, eine Artistengruppe zeigte Kunststücke, ein Magier und ein Feuerschlucker kamen dazu, die Band spielte und gleich wurde wieder Wein und Bier verteilt.

Der Tag zerfloss in tausend kleine Spiele: nachts lag Marian im Bett und fühlte nichts als Freude und glückliche Erschöpfung. Er hatte gestritten, Freundschaft geschlossen, sich gleich zweimal verliebt, hatte der Händlerin geholfen, war seiner Vergangenheit entgegengetreten — Nein, der Vergangenheit von Lukasz, korrigierte sich Marian, lächelte und schlief ein.

Dann kam der Sonntag und Marian stürzte sich vom frühen Morgen an in das neue Spiel. Den ganzen Tag verwickelte und verstrickte er sich mit einer riesigen Lust im Bauch in seiner eigenen Geschichte und in die Geschichten seiner Freunde, seiner Feinde, seiner Bekannten und Geliebten.

Am Nachmittag saß Marian mit den beiden alten Männern aus der Küche im Hof und schaute ihnen bei einer Schachpartie zu, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Es war Jordan. Er war ganz in weiß. Ohne zu erklären, wo er gewesen war, zog er Marian vom Hocker.

„Komm.“ Mehr sagte er nicht. Marian wehrte sich, folgte dann doch und hörte schließlich auf, Fragen zu stellen, weil er merkte, dass Jordan nicht antworten würde. Sie gingen ins Schloss, nahmen die große Treppe, stiegen immer weiter nach oben bis unters Dach. Wer ihnen begegnete, machte stumm Platz. Gespräche erstarben, sobald sie näherkamen und setzten als leises Flüstern hinter ihnen wieder ein.

Auf dem Dachboden öffnete Jordan eine Holztür zu einer weiten Galerie. Seine Koffer standen hier neben einem Bett, einem Sessel, einem Schreibtisch und einem Schrank in einer Ecke unter der Dachschräge. Der Rest der Galerie war leer.

„Die kennst Du schon, oder?“ Jordan legte das Kästchen mit der Rose auf dem Deckel auf Bett.

„Es ist soweit. Jetzt musst Du mir sagen, ob du mir helfen wirst, wenn ich dich darum bitte.“

„Ich ziehe es vor, die Bitte zu kennen, bevor ich antworte.“ Marians Kopf schwirrte — der Tag war leicht gewesen. In Jordans Gesicht sah er etwas anderes.

„Ich muss mich duellieren und ich brauche dich als Sekundanten.

Marian lachte.

„Nein Jordan.“ Bewusst sagte er den Namen. „Jetzt ist gut. Ich glaube ja, dass ihr das hier ernst nehmt, aber jetzt wird’s albern.“Zur Antwort lud Jordan eine der Pistolen, spannte den Hahn, zielte auf den Schrank und drückte ab. Eine Schnitzerei in der Zierleiste des Schrankes explodierte in einer Wolke aus Splittern und Holzspänen.

„Ich brauche dich. Ja oder Nein?“

Marian setzte sich aufs Bett.

„Ich kann hier niemandem mehr trauen. Nur dir. Du bist noch…unschuldig.“ Jordan lächelte. Dann erzählte er, was geschehen war.

Eine Stunde später, die Sonne war eben verschwunden, stand Marian neben Jordan und hielt das Kästchen mit den beiden Pistolen vor seiner Brust. Artemis war da. Sie stand neben dem Mann, der die Rede am ersten Abend gehalten hatte. Die beiden Alten aus der Küche, denen Marian beim Schach zugesehen hatte waren da und ein Unbekannter. Jordans Gegner. Niemand sagte etwas. Alle schienen zu wissen, was als nächstes zu geschehen hatte.

Jordan und sein Gegenüber stellten sich Rücken an Rücken. Artemis zählte. Jede Zahl war ein Schritt. Bei zehn blieben sie stehen. Jeder erhielt eine Pistole. Jordan hatte den ersten Schuss. Er senkte den Lauf der Waffe und feuerte in den Boden. Sein Gegner tat es ihm daraufhin erst gleich, hob dann die Pistole gegen Jordans Brust und schoss. Jordan kippte um. Er starb, bevor er noch etwas sagen konnte. Tätschelte bloß Marians Schulter, als dieser sich neben ihn auf den Boden warf. Das Duell war entschieden.

Marian stand auf. Er sah sich selbst wie von außen dabei zu, wie er die zweite Pistole nahm, sie lud, so wie Jordan es ihm gezeigt hatte. Er stellte sich an die Stelle, an der Jordan gestanden hatte, hob die Waffe und rief: „Jordan Schmadtke ist tot!“

„Wer soll das sein?“ Artemis lachte.

„Ich fordere den da zum Duell.“

Schweigen erstickte das Lachen. Sie wiederholten das Prozedere der zehn Schritte. Der erste Schuss krachte. Marian sah wie Blut aus seinem Arm quoll. Den Schmerz spürte er kaum. Er hob die Waffe, zielte, schoss, sein Gegenüber fiel, bevor der Schuss verhallt war.

Er hatte sofort die Pistole fallen gelassen und war gerannt. Er wusste nicht, ob er den Unbekannten getötet hatte. Er verstand aber, dass er wegmusste. Er war zur Scheune gerannt und zu seinem Auto.

Er startete den Motor. Vor der Scheune tauchte eine Gestalt auf und rannte auf ihn zu. Es war Alexandra. Sie sprang vor die Motorhaube und hämmerte, als Marian bremste und stehenblieb gegen die Beifahrertür.

„Nimm mich mit, nimm mich mit.“ Schrie sie.

Der Hof war leer, das Schlosstor stand offen. Marian jagte den Mercedes hindurch. Erst auf der Landstraße Richtung Berlin nahm er den Fuß etwas vom Gaspedal. Im gleichen Augenblick kam der Schmerz. Mit Mühe lenkte er das Auto auf eine Wiese und hielt an.

Stunden später lag Marian in einem Krankenhausbett. Er wachte langsam auf. Die Kugel hatte seine Schulter durchschlagen. Er war allein. Alexandra hatte versprochen, den Wagen in die Garage zu fahren und den Schlüssel bei ihm zu Hause in den Briefkasten zu werfen. Sie würden sich treffen. Irgendwann. Um gemeinsam zu verstehen, was geschehen war. Oder was war geschehen? „Die rufen niemals die Polizei.“, das hatte sie doch gesagt?! Jordan Schmadtke, sein Kunde, der war tot. Der würde einfach verschwinden und der andere, auf den Marian geschossen hatte vielleicht auch.

Bevor Alexandra mit dem Wagen weggefahren war und ihn am Straßenrand zurückgelassen hatte um auf den Notarzt zu warten, hatte sie noch gesagt: „Es ist nicht vorbei.“ Für den Moment war es vorbei.

„Machen Sie auf!“ Der Kunde, Jordan Schmadtke, schlug gegen das Fenster der Fahrertür.

„Aufmachen. Ich werde klatschnass!“

Marian riss die Augen auf und entriegelte die Tür. Schmadtke warf seine Tasche und die nasse Anzugsjacke auf die Rückbank und sich selbst daneben.

„Schläft der einfach!“

Eine halbe Stunde später saß Marian in einer leeren Hotelbar, trank einen Cocktail, den er nur bestellt hatte, weil es der teuerste auf der Karte war und wartete auf Schmadtke.

Der Raum war leer. Irgendwo lief der Kellner herum und verteilte Kerzen auf den Tischen. Marian bewegte sich nicht. Er hatte Schmadtke erkannt. Die Stimme, die in der Lobby geschrien hatte. Jetzt stand der in der Tür und starrte. Marian nagte an den Früchten aus seinem Glas.

„So ists besser.“ Schmadtke hüpfte auf einen Hocker neben Marian. „Schon leer? Noch einen?“

„Was ist mit dem Wochenende?“

„Rufen Sie an. Der Chef wird’s schon klären.“

Ohne abzubrechen, erzählte Jordan irgendwo in die Richtung von Theke, Aschenbecher und Marians Bauch. Seine Kinder gingen in London zur Schule, seine Frau arbeitete in München und London und er in Berlin und London. Er erzählte, dass ihm alle fremd geworden seien, dass er nicht mehr wisse, weshalb er seinen Job weiter mache, dass ihm manchmal so Gedanken kämen, so Gedanken eben. Plötzlich sprang er auf, schlug Marian auf die Schulter.

„Auf nach Rostow. Die Pferde gesattelt.“

Im Auto. Vor dem Hoteleingang. Sie fuhren los. Der Mercedes rollte leise. Die Straßen waren leer. Jordans Kopf kippte nach hinten. Im Rückspiegel konnte Marian den Kehlkopf erkennen, der weiß, wie ausgestanzt aus dem Hals seines Kunden ragte. Je länger sie fuhren, desto häufiger blickte Marian in den Spiegel. Er bremste ab und lenkte den Wagen auf einen Wiesenstreifen neben der Landstraße. Er drehte den Schlüssel, der Motor erstarb. Marian stieg aus. Er ging um das Auto herum zum Kofferraum. Durch das Heckfenster sah er Jordans Kopf: unbewegt, in der gleichen Position, in der er eingeschlafen war. Das Schloss schnappte auf. Da lagen die Koffer. Seine Hände langten nach den Reißverschlüssen. Er sah Hemden, einen ledernen Kulturbeutel, Medikamente, Schlafmittel und Beta — Blocker, eine Zigarre, Lederschuhe, den Roman „Papillon“ von Henri Charrière. Marian klappte den Koffer zu und öffnete den zweiten. Zunächst verstand er nicht, was er sah.


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